EU braucht starke Staaten

Rund 80 Prozent der Gesetze, die Bundestag und Länderparlamente beraten, sind der Vollzug von Vorgaben aus Brüssel. Vor einigen Jahren sollte diese Zahl Stolz auf das zusammenwachsende Europa erzeugen.

Doch inzwischen fürchten immer mehr Menschen den politischen Apparat Brüssels, der immer weitere Kompetenzen an sich saugt, ohne dass die Bürger kontrollieren können, was da - auch mit ihrem Geld - gemacht wird. In Europa wächst jedenfalls das Unbehagen, wie die Ergebnisse von AfD in Deutschland, FPÖ in Österreich und EU-kritischen Parteien in den anderen Ländern zeigen.

Ein Rückbau der Gemeinschaft ist denkbar. Zwar werden die Bürger lernen müssen, dass ein Binnenmarkt die Harmonisierung nicht nur technischer, sondern auch sozialer Auflagen braucht. Aber tatsächlich nimmt die EU längst Aufgaben wahr, bei denen der "europäische Mehrwert" bestenfalls schwer erkennbar ist. Das muss Konsequenzen haben. Die EU braucht eine Rückbesinnung auf die ausgeglichene Aufgabenteilung zwischen Staaten und Gemeinschaft. Und zwar bald.

Das wird nicht einfach. Man kann etwa den Arbeitsschutz nicht einfach wieder jeder Hauptstadt überlassen, ohne die Wettbewerbsbedingungen und die Sozialstandards aufs Spiel zu setzen. Es ist nicht möglich, die Innenpolitik wieder zur nationalen Hoheit zu erklären, ohne die Freizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit zu riskieren. Aber man kann sehr wohl die Frage stellen, ob Nichtraucherschutz, Glühbirnen oder Lebensmittel-Etikettierung gewinnen, wenn sie per Diktat aus Brüssel kommen. Es gibt Visionäre, die eine Beschränkung der EU auf die großen Bereiche Währung, Binnenmarkt, Außenpolitik und Klimaschutz fordern - die man gemeinsam besser als national regeln kann.

Der Grundgedanke weist in die richtige Richtung: Diese EU muss nicht mächtiger, sondern effizienter werden. Sie braucht starke, nicht entmachtete Mitgliedstaaten. Und einen Prozess des Nachdenkens und Reformierens, der bald beginnt.

Dabei kommt aber nicht nur den EU-Vertretern große Verantwortung zu, sondern auch den nationalen. Ihre Versuche, Europa immer wieder als den Schuldigen für unpopuläre Entscheidung zu verunglimpfen, grenzt oft an bewusste Wählertäuschung. Das sollten die wissen, die den Rufen der Apostel eines neuen Protektionismus folgen. Ohne ein großes Maß an Zusammenhalt, ohne eine Harmonisierung der Politik und der Bedingungen für Wirtschaft und Soziales sind die Europäer nicht in der Lage, bei der Globalisierung Schritt zu halten. Es gilt also, die Balance zu finden, zwischen meinem Land und meinem Europa. Im besten Fall gewinnen alle. Im schlechtesten Fall verliert dabei jeder.

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