Entwicklungsland Deutschland

Von heute an haben Eltern von Kleinkindern ein Recht auf Betreuung. Familienministerin Schröder verkündete kürzlich Plansoll-Erfüllung: Über 813 000 Krippenplätze stünden bereit.

Kurz vor der Wahl macht sich die frohe Botschaft gut: Wir erfüllen unsere Versprechungen! So einfach ist es aber nicht. Denn unsere Gesellschaft scheint insgesamt nicht vorbereitet.

Obwohl Scheidungsrecht und Rentenbescheide Mütter alarmieren müssten, wird weiter Rechtfertigungsdruck aufgebaut: Warum muss eine Frau ein Jahr nach der Geburt wieder arbeiten? Warum hat sie überhaupt Kinder? Unser schrumpfendes Land müsste längst dankbar für jede sein, die Nachwuchs bekommt. Doch es leistet sich verletzende Debatten über Rabenmütter.

Auch die Politik verfährt allzu scheinheilig, wenn sie Krokodilstränen vergießt: Wir finden keine Erzieherinnen! Die Immobilien sind zu teuer! Dabei sind alle Rahmenbedingungen hausgemacht. Tausende Erzieherinnen arbeiten nicht mehr in ihren Berufen. Ihr dürftiges Salär konkurriert im öffentlichen Dienst mit dem von Müllwerkern, ihre Arbeit ist häufig psychisch belastet wie die von Sozialarbeitern im Brennpunkt. Die Wahrheit ist deshalb, dass sich unsere Gesellschaft noch nicht darauf verständigt hat, was uns frühkindliche Bildung wert ist.

Tief verunsichert schwanken wir zwischen modernem Gesellschaftsdiskurs und traditionellem Bewahren hin und her. Mit dem Betreuungsgeld steigerte die Union nicht die Anerkennung von Erziehung, sie brachte sie auf Nasenwasserniveau. Aufgabe des Staates ist aber ohnehin nicht, Gutverdiener-Ehen zu subventionieren. Dass kleine Kinder in gutem familiären Umfeld gut gedeihen, ist ja unstrittig. Die Debatte über Bereuungsplätze verstellt den Blick dafür, dass die ersten Lebensjahre zu Hause hierzulande noch immer die Regel sind. Der fürsorgende Staat hat sich aber vorrangig um jene zu kümmern, bei denen die Bedingungen andere sind: Bildungsverlierer, Migranten, sozial Schwache. In Krippen sammelt sich bisher aber vielfach der Nachwuchs gut ausgebildeter Doppelverdiener. Die Knappheit an Betreuungsplätzen führt zu unheilvoller Konkurrenz und einseitiger Privilegierung. Während sich etwa Akademikerinnen wehren können, bleiben Familien, deren Kinder Anregung bitter nötig hätten, häufig außen vor.

Das Bildungssystem steht noch immer auf dem Kopf. Es reicht nicht, Erzieherinnen auf die Hochschule zu schicken, man muss sie hinterher auch anständig bezahlen. In der Not den Berufsstand für Quereinsteiger zu öffnen, die Qualitätskriterien abzusenken, die Gruppen zu vergrößern, ist der gänzlich falsche Weg. Ein richtiger Weg wäre zum Beispiel: Studiengebühren wieder einführen und großzügig in die Kleinen investieren. Jeder Euro kommt hundertfach zurück. Solange aber Kleinkindbetreuung und Ganztagsschulen von manchen als Freiheitsentzug betrachtet werden, bleibt Deutschland Entwicklungsland.

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