Einfühlung bei größter Distanz, ein Kunststück

Das Bemerkenswerte an diesem Debüt ist die innere Konsequenz, mit der die existentielle Verunsicherung eines Heranwachsenden ausgebreitet wird. Erzählt werden zwei träge Sommertage im Leben eines namenlosen Jungen an der Schwelle zur Pubertät, der im deutsch-holländischen Grenzgebiet unweit eines Militärstützpunktes aufwächst

Das Bemerkenswerte an diesem Debüt ist die innere Konsequenz, mit der die existentielle Verunsicherung eines Heranwachsenden ausgebreitet wird. Erzählt werden zwei träge Sommertage im Leben eines namenlosen Jungen an der Schwelle zur Pubertät, der im deutsch-holländischen Grenzgebiet unweit eines Militärstützpunktes aufwächst. In einem Dorf, das wirkt, als habe man eine schwarze Folie darüber gespannt - "gelegen in der vielleicht tiefsten Senke der Welt". In einer Gegend von einschläfernder Normalität, in der man Tauben züchtet, Bier in sich hineinkippt, ob all des Militärs selbst gern mit Säbeln rasselt, Asylbewerber in Container im Wald abschiebt und die Bundesliga mehr ins Herz schließt als die unvermeidliche Sonntagsmesse. Wobei diese niederrheinische Trostlosigkeit mehr Kulisse bleibt. Als umso begehbarer erweisen sich die inneren Umbruchslandschaften des Jungen.Bereits der erste Satz des Buchs markiert jenen Schwebezustand, den diese Prosa bis in ihre nur vordergründig gleichförmigen, eine extreme Nüchternheit verströmenden parataktischen (gleichgeordneten) Satzstrukturen hinein bis zum Schluss durchhält: "Irgendwo über ihm war es, mehrere Kilometer entfernt, ein Düsenflugzeug in weiß-beige-schwarzer Camouflage." Irgendwo über, neben und unter ihm lösen sich die alten kindlichen Gewissheiten so sehr auf, dass ihn ein Schwindel befällt und der Junge fürchtet, der Erdboden unter ihm öffne sich und reiße alles mit sich fort. Sebastian Polmans lässt seinen Erzähler diese Auflösungserscheinungen ohne innere Anteilnahme protokollieren. Man begreift: Dieser Junge, der allenfalls von seiner Großmutter, nicht aber von den Eltern Zuwendung zu erwarten hat, ist auf sich alleine gestellt. Umfasst von einer namenlosen Angst.

Polmans Roman setzt mit der Schilderung eines Nachmittages in der Kanzel eines Wachturmes ein, von dem aus der Junge in eine Welt blickt, die wie "eingefroren" wirkt. Man weiß nicht, ob es die Einsamkeit dort oben, die vorbeijagenden Düsenjets oder die Verwaistheit der Umgebung ist, die ihn flüchten lassen. "Was war es, das ihn da so brutal überwältigte?", fragt der Erzähler, um klarzumachen, dass eigentlich nichts passiert ist. Eigentlich. Was den Jungen aus der Bahn wirft, ist die Erkenntnis, dass die Welt sich in nicht mehr länger um ihn herum gruppiert. Er nicht länger ihr Magnet ist. Er, wie alle, nur ein Gastspiel gibt in einer Welt, "in der alles von selbst passierte". Damit relativiert sich alles. Ist nicht mal mehr sicher, wo und wie das Leben und die Erde aufhören. Als er auf seinem Fahrrad an abgesägten Baumstämmen vorbeifährt, versucht er "nicht hinzusehen, weil er glaubte, zugerichtete Körper zu erkennen".

Das Kunststück dieses kleinen Romans besteht darin, die Folgen des Verlusts kindlicher Selbstvergewisserung nicht auf der klassischen Handlungsebene zu spiegeln, sondern ganz im Atmosphärischen zu belassen und damit umso greifbarere Empfindungsräume zu gestalten. Wir blicken in die Schutzkeller unter der Haut, durch deren kleinste Poren die Geräusche sich "Zugang zu seinem Körper verschaffen". Am Ende liegt Tokio, Fixpunkt aller Fluchtbewegungen des Jungen, wie im Atlas nur zehn Daumenlängen von seinem niederrheinischen Dorf entfernt. Als hätte er erkannt, dass die Phantasie ihm etwas wiederzugeben vermag, was das Leben ihm genommen hat.

Sebastian Polmans: Junge. Suhrkamp, 195 Seiten, 17,90 €

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