Eine Ansprache an die Blinden und Tauben

Saarbrücken · Vor 13 Jahren las er schon einmal hier, nun kommt der polnische Autor Andrzej Stasiuk wieder. Sein jüngstes Buch „Der Stich im Herzen“ handelt vom „Unterwegssein als Lebensform“, so sein Verlag. Es bringt die Essenz dieser Skizzen auf den Punkt.

 Stasiuk, 55, gesehen von seinem Übersetzer Olaf Kühl. Foto: Kühl

Stasiuk, 55, gesehen von seinem Übersetzer Olaf Kühl. Foto: Kühl

Foto: Kühl

Als vor 15 Jahren sein grandioser Roman "Die Welt hinter Dukla", die bis heute seine Heimat geblieben ist, in deutscher Übersetzung erschien, wurde in den Feuilletons ein neuer Genius der mitteleuropäischen Literatur gesichtet. Andrzej Stasiuk beschrieb die dörfliche Welt der Beskiden in Südpolen, in die er sich zurückgezogen hatte, auf bezwingende Weise. Ihm gelang eine wunderbar träge Road Novel durch eine archaisch anmutende Landschaft, die er mit all ihren dort Ausgesetzten, Naturgeistern und unscheinbaren Dingen zum Sprechen brachte. Seither gilt Stasiuk als wichtigste literarische Stimme Polens; seither hat er viel publiziert und seinen Lebenswunsch, Schriftsteller zu sein, einlösen können.

Im vergangenen Spätfrühjahr erschien mit "Der Stich im Herzen" sein bislang letztes, ins Deutsche übertragene Werk - eine Sammlung meist nur wenige Seiten langer Betrachtungen und Reiseskizzen, die nicht nur, aber auch vom Fernweh erzählen, dass ihn in seinem einsamen Tal unweit der slowakischen Grenze zeitweise überkommt und dann wieder losziehen lässt. Selten nach Westen, fast immer nach Osten (China, die Mongolei, das tiefste Russland) und Süden (Rumänien, Albanien und der Balkan).

"Sand, alter Beton, Unkraut", die vier ersten Worte dieses kleinen Bändchens illustrieren schon, welche Orte es sind, die Stasiuk aufsucht: keine Postkartenziele, vielmehr Gegenden, die nie etwas zu bieten hatten und genau deshalb so entdeckungsreich sind. Äußere Beschränkung als Bedingung innerer Ausdehnung. Selbst die Luft nimmt dort Gestalt an: "Sie glänzte in der Sonne wie Keramik". Und gegerbte Alte tragen "Gesichter, die Mineralien gleichen". Und über den Straßen liegt "der dunkle, ölige Geruch von Diesel, der immer Reise signalisiert". Nicht alle Texte überzeugen, finden einen Ton, der trifft, der nachhallt. Doch findet sich genug, das ergreift. Etwa eine in denkbar größter Ehrlichkeit verfasste Selbstvergewisserung unter dem Titel "Aus der Ferne", in der Stasiuk darlegt, was ihn antreibt als Schriftsteller: Im quälenden Bewusstsein dass alles im Leben - jeder Tag, jede Stunde - "nur einmal geschieht (. . . ) und dann für immer vergeht", versucht er dichtend, "den Tod der Welt hinauszuzögern". Es ist der alte große Topos, dass das Spiegelkabinett der Kunst das Leben zu vervielfachen weiß. Und doch hole sich jeder dort nur, was er brauche. "Nicht unbedingt das, was der andere geben wollte." Alleine dieser aufrichtige Text ist den ganzen Band wert. Das Verstehen ist immer bruchstückhaft, sagt Stasiuk. Jeder folgt seinen eigenen Stimmen. "Deshalb sind wir, auch wenn wir sprechen und zuhören, wie Blinde und Taube." Und doch verbindet genau das uns alle. Man wird sehen, was bei Stasiuks Lesung morgen im Künstlerhaus davon zu spüren sein wird.

Andrzej Stasiuk : Der Stich im Herzen. Suhrkamp, 207 S., 10 €

Lesung am Freitag um 20 Uhr im Saarl. Künstlerhaus mit Stasiuk, seinem Übersetzer Olaf Kühl sowie Alfred Gulden .

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