Ein Rettungsanker im Palaver

Vielleicht wäre JR der ungewaschene Dreikäsehoch geblieben, der sich am liebsten vor dem Sport drückt. Und vielleicht hat Mrs. Joubert ja doch das Bildungsziel ihrer Schule verstanden, wenn sie mit ihren Elfjährigen einen Ausflug an die Börse unternimmt

Vielleicht wäre JR der ungewaschene Dreikäsehoch geblieben, der sich am liebsten vor dem Sport drückt. Und vielleicht hat Mrs. Joubert ja doch das Bildungsziel ihrer Schule verstanden, wenn sie mit ihren Elfjährigen einen Ausflug an die Börse unternimmt. Die Kinder sollen nicht auf der Straße rumhängen, bis die Mädchen alt genug für eine Schwangerschaft sind und die Jungen eine Tankstelle pachten können. Darum gibt es schließlich Schulen.

Und vielleicht wären Gehälter besser als Zensuren. Ganz sicher jedenfalls ist Edward Bast überall falsch. Der verkrachte Komponist kommt mit dem Erbe seines Vaters nicht klar. Dieser hatte mit Rachmaninov und Ravel verkehrt. Geblieben aber ist seine Erfindung eines mechanischen Klaviers, das den Pianisten überflüssig macht. Dies könnte als Leitmotiv des gigantischen Dialogromans herhalten, es geht um den Verlust von Individualität im großen dissonanten Orchester menschlicher Kommunikation.

JR, der Elfjährige, setzt alles, was er an der Börse erfahren hat, umgehend in die Tat um. Vom Schultelefon aus baut er sich ein Finanzimperium auf und jongliert mit Millionen. Mit rasendem Bleistiftstummel, Taschentuch vor der Sprechmuschel und einem Packen Werbecoupons unterm Arm wird er zum Virtuosen der Steuergesetze und verwandelt pure Chancen in reinen Gewinn. Moral kann von einem Kind keiner verlangen, die Zukunft gehört eh' Einzelkämpfern, die für eine Million Dollar eine Million Stimmen bekommen.

Schließlich aber stürmen Börsenaufsicht, Finanzamt und Journaille JRs Hauptquartier, in dem zwei durchgeknallte Künstler längst aufgegeben haben, Ordnung in die Papierflut bringen zu wollen. Aber es gibt Schlimmeres als Konkurs. Schließlich bleibt, und so endet der Roman, die Aussicht auf ein öffentliches Amt.

Eine solche Hatz durch das über 1000-seitige Opus kann den Kern nicht treffen. Versuche mal einer, James Joyce' "Ulysses" nachzuerzählen. Es ist schwer mit den dicken Wälzern der Moderne. In diese Linie gehört William Gaddis' fulminanter Roman. Zum Glück gibt es auch hier den vertrackten Humor, der uns bei der Stange hält.

William Gaddis (1922-1998) lebte zurückgezogen auf Long Island, keine Talkshows, kaum Interviews. Sein Debüt 1955 "Die Fälschung der Welt" war nicht eben erfolgreich. Enttäuscht zog sich der Autor in die PR-Abteilung einer Pharmafirma zurück, um es 20 Jahre danach mit "JR" allen zu zeigen. Es folgten "Die Erlöser" (1985), "Letzte Instanz" (1993), eine Justizsatire, in der jeder jeden verklagt, sogar sich selbst, sowie "Das mechanische Klavier" (postum 2002). Gaddis thematisierte nichts Geringeres als die Lebensnerven der modernen Gesellschaft: Gerichtswesen, Aktienmärkte, Informationsfülle, Werbung, Käuflichkeit von allem und die Außenseiterrollen von Bildung und Kunst. Er ist der Erfinder des Dialogromans der Moderne - und der Melodie ihres Palavers obendrein. Positive Gewinnabschreibung und körperschaftsinterne Regelung, gerichtsverwertbare Auskünfte und stichhaltige Verkehrswertgutachten: Welcher andere Autor des 20. Jahrhunderts konnte freiweg mit solchen Wortungetümen hantieren? Slapstick, Nonsens und Klamauk stehen neben pfeilschnellen Einblicken. Alle reden Vorgefertigtes - in Konferenzen, Selbstdarstellungen, Nachrichten, Verlautbarungen, Slogans. Es gibt keinen Erzähler mehr, keine Wertungen und keine Kommentare. In harten Schnitten lässt Gaddis das Geschwätz seiner Figuren aufeinanderprallen.

20 Jahre lang galt der Roman als unübersetzbar, bis 1996 erstmals Marcus Ingendaays und Klaus Modicks beeindruckender Parforceritt erschien. Seine aktualisierte Neuedition ist ein Ereignis, das auf wundervolle Weise der Erklärung unserer hochstapelnden Gegenwart dient.

William Gaddis: JR. Aus dem amerikanischen Englisch von Marcus Ingendaay und Klaus Modick. DVA,. 1040 Seiten. 29,99 €

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