Ein Porträt der "Generation Blass mit Schlips"?

Saarbrücken. In seiner Streitschrift "Wir holen uns die Politik zurück!" unterzieht der Berliner Publizist Axel Brüggemann das Parteiensystem in Deutschland einer kritischen Analyse und geht mit der Politikerkaste hart ins Gericht. Sein Befund: Die Politiker haben den Bezug zu den Lebensrealitäten der Bürger verloren und können sich nicht mehr in diese hineinversetzen

Saarbrücken. In seiner Streitschrift "Wir holen uns die Politik zurück!" unterzieht der Berliner Publizist Axel Brüggemann das Parteiensystem in Deutschland einer kritischen Analyse und geht mit der Politikerkaste hart ins Gericht. Sein Befund: Die Politiker haben den Bezug zu den Lebensrealitäten der Bürger verloren und können sich nicht mehr in diese hineinversetzen. Das Attribut Volks-Vertreter müsse ihnen daher abgesprochen werden.

Die Menschenferne der Politiker zeige sich beispielsweise darin, dass sie Armut als statistisches Phänomen abtun und die existenziellen Nöte von Menschen, von einem zusehends wachsenden Teil der Deutschen schlicht ignorieren. In "Steinmerkels Wunderland" finde Politik ohne die Beteiligung der Bevölkerung statt, parteipolitische Unterschiede seien kaum noch erkennbar. Es regiere die "Generation Blass mit Schlips". Die so genannten Volksparteien agieren für Brüggemann nur mehr als "reine Machterwerbsagenturen", deren Interesse allein darin besteht, sich von Legislatur- zu Legislaturperiode zu mogeln. Wer wählt, wählt inzwischen oft nur noch das kleinere Übel statt die eigene Überzeugung.

Was kann man tun, Wähler und Gewählte einander wieder näherzubringen? Vor allem sei es notwendig, dass die Bürger den Anspruch auf eine demokratische Politikkultur mit mehr Mitsprache in ihrem eigenen Land nicht nur einklagen, sondern sich diese erkämpfen: "Die Wähler müssen auf ihr Recht bestehen, als Souverän der Staatsgewalt zu agieren." Der Appell des Autors an die politisch-moralische Verantwortung der Staatsbürger ist die zentrale Botschaft des Essays.

Um den politischen Diskurs um Wähler, Politiker, Macht und Wählerauftrag wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, bedarf es allerdings nach Ansicht Brüggemanns eines radikalen, allerdings eher zweifelhaften Schritts: "massives Ungültigwählen". So könne man den amtierenden Politikern das Vertrauen entziehen und sie zwingen, sich wieder näher an den realen Problemen der Menschen zu bewegen.

Vehement widerspricht Brüggemann der gängigen Auffassung, Falsch-Wähler würden ihre Chance vertun, das Land demokratisch mitzugestalten. Ungültigwählen sei keine Untugend, sondern gerade in Krisenzeiten der Demokratie ein hochpolitischer Akt. Ein deutliches Zeichen sei es, wenn es am Wahlabend heiße, so und so viel Prozent aller Deutschen hätten ihren Stimmzettel ungültig gemacht. Der Weg wäre endlich frei für eine offene und breite Diskussionskultur, die sich grundlegenden Fragen stellt wie die nach der plebiszitären Demokratie, der Veränderung des Wahlrechts, der Entfernung des Koalitions- und Fraktionszwangs. Ob und inwieweit das von Brüggemann beschworene "Experiment Demokratie" die Fähigkeit besitzt, sich selbst infrage zu stellen und zu heilen, darüber lässt sich trefflich streiten.

Axel Brüggemann. Wir holen uns die Politik zurück! Eichborn, 192 S., 14,95 €

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