Ein Netz, sie zu knechten

Saarbrücken · Die Amerikanerin und der DDR-Deutsche: Jonathan Franzens neuer Roman „Unschuld“ ist ein Kampf mit den Mitteln der Literatur gegen den Totalitarismus – ob nun den vergangenen der DDR oder den aktuellen der digitalisierten Welt.

Als Andreas Wolf, 1960 in Ost-Berlin geboren, Neffe des ehemaligen Spionage-Chefs Markus Wolf , 15 war und wie besessen onanierte, da brachte ihn sein Vater zum Psychologen. Jahrzehnte später ist der "blonde Prinz der Karl-Marx-Allee" immer noch sexbesessen, will aber fortan als guter Mensch gelten. Er hat sich, per Haftbefehl gesucht, im Urwald Boliviens verschanzt und dort "Sunlight Project", eine Enthüllungsplattform, gegründet. Er stellt im Netz Ungerechtigkeiten an den Pranger, vor allem gegen Frauen. Dem Enthüller in seiner sektenartigen Organisation geht es aber hauptsächlich um das Enthüllen junger Frauen, die ihn verehren und für ihn arbeiten.

Als die junge Pip, die offiziell Purity heißt, aber diesen Namen hasst, herausbekommen will, wer ihr Vater ist, setzt sie auch auf Andreas' Portal. Sie mailt ihn an, er verspricht Hilfe. Ihre reiche Mutter will ihr nicht sagen, wer ihr Erzeuger ist. Pip hat 130 000 Dollar Schulden an Studiengebühren, jobbt im Callcenter, liebt einen Mann, der ihr Vater sein könnte, der Sex ist lustlos. Beim Dschungelvisionär in Bolivien wird sie sofort dessen Gefährtin. Der Ex-DDR-Deutsche lässt für sie alle anderen Verhältnisse fahren.

Die sarkastische Pip und der Größenwahnsinnige aus Ost-Berlin - was für eine Geschichte! In seinem neuen Roman erzählt Jonathan Franzen von einer turbulenten Jugend unter der SED, von Missbrauch, Sex , Mord - und vom Internet. Franzens steile These: Beim SED-Regime und im Internet geht es um Überwachung, Kontrolle und totalen Zugriff. Die verblasste DDR und die leuchtende Digitalwelt stehen für subtile Gewalt und Menschenbeherrschung.

Auf mehr als 800 Seiten - mit eingeschobenen Binnenessays, Reflexionen über Charaktere und seine persönlichen Ansichten - führt Franzen den Lesern vor, wie ihre Existenz dauerhaft unterminiert ist. "Die Antwort auf jede Frage, ob groß oder klein, hieß Sozialismus ", erklärt Andreas Pip. "Ersetzte man Sozialismus durch Netzwerke, hatte man das Internet. Dessen miteinander konkurrierende Plattformen einte der Ehrgeiz, jeden Aspekt deiner Existenz zu definieren." Das bewährte Muster der Machtkultur: Menschen anlocken, besetzen, vergiften, ausnehmen. Immer geht es darum, sie in Aufruhr zu versetzen, in Angst sowieso. So werden Menschen zu Zeitgenossen ohne klare Identität, zu jagenden Gejagten, sinnleeren Sinnsuchern, benutzbar.

Franzen schiebt seine Figuren - neben dem seltsamen Paar auch ihre jeweiligen Verwandten und Amerikaner - nicht hin und her, um seine These an ihnen abzuwickeln. Vielmehr wird aus jedem Eigenleben erzählt; der Roman, wieder ein Gesellschaftsroman, wie alle Franzen-Romane, besteht aus sieben Novellen . Das ist eine Überraschung - aber er liest sich gut.

Jonathan Franzen : Unschuld. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt, 830 Seiten, 26,95 Euro.

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