Ein kalkuliertes Chaos

Die Türkei hat mit den Angriffen auf die PKK-Kurdenrebellen eine Ära beendet. Präsident Recep Tayyip Erdogan selbst hat den Friedensprozess mit den Kurden der vergangenen Jahre öffentlich für aufgehoben erklärt.

Die Gründe dafür liegen in wahltaktischen Überlegungen. Damit beginnt für den Staat eine Phase der Instabilität, von der noch nicht abzusehen ist, wie lange sie anhalten wird.

Angesichts der massiven und unprovozierten türkischen Luftangriffe auf die PKK fragt sich alle Welt erneut, was Erdogan wohl geritten hat. Kaum wendet er sich nach langem Zögern gegen den Islamischen Staat, bricht er auch noch einen Zweifrontenkrieg gegen die PKK vom Zaun.

Doch Erdogan ist nicht verrückt, er ist und bleibt der Machtpolitiker, den man kennt. Hinter der Entscheidung, die PKK ins Visier zu nehmen und den Friedensprozess mit den Kurden aufzukündigen, steckt eine Erkenntnis: Die Friedensgespräche der letzten zwei Jahre haben der Erdogan-Partei AKP geschadet. Erdogan und andere in der AKP sind überzeugt, dass der Grund für die Bauchlandung der Partei bei den Juni-Wahlen vor allem in ihrer Kurdenpolitik lag. Deshalb ändert Erdogan jetzt diese Politik, und zwar mit drastischen Mitteln.

Die Kursänderung der vergangenen Tage reflektiert Erdogans Überzeugung, dass viele konservative Türken den Friedensprozess mit der PKK ablehnen. Deshalb ist nicht damit zu rechnen, dass der Präsident - etwa unter dem Eindruck der Kritik aus Deutschland oder anderer westlichen Staaten - wieder zum Friedensprozess zurückkehrt. Erdogan zeigt damit wieder einmal, dass er vor allem ein Populist ist, weniger ein Staatsmann mit Vision, der sich im Dienste eines übergeordneten Zieles wie der Beilegung des Kurdenkonflikts auch einmal gegen die Meinung der eigenen Wähler stellt.

Erdogans Kurs bedeutet, dass die gesellschaftlichen Spannungen im Land wieder zunehmen. Der Kurdenkonflikt könnte mit neuer Wucht entbrennen; schon jetzt gibt es jeden Tag wieder mehrere Tote bei Gefechten zwischen Armee und PKK in Südost-anatolien. Viele Türken befürchten Terroranschläge in den Großstädten. Die trotz vieler Probleme im Großen und Ganzen friedliche Atmosphäre der vergangenen Jahre ist dahin.

So schnell wird sie sich auch nicht wieder einstellen. Derzeit hat die Türkei eine Regierung, die nur geschäftsführend im Amt ist, eine Regierungskoalition ist nicht in Sicht. Sollte das Land auf Neuwahlen im November zusteuern, wird die Unsicherheit in den kommenden Monaten anhalten. Es ist unwahrscheinlich, dass Erdogan sein Ziel erreichen kann, die Kurdenpartei HDP so zu schwächen, dass sie aus dem Parlament herausfällt. Selbst wenn ihm das gelingen sollte, wird sich die Situation eher verschlimmern als beruhigen.

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