Ein Historiker, der die Deutschen mit ihrer Schuld konfrontierte

Saarbrücken · Was die Aufarbeitung der NS-Zeit anbelangt, dürfte es nicht viele Historiker geben, die über die Jahrzehnte solchen Einfluss gewonnen haben wie der am Donnerstag in seinem Haus im bayerischen Tutzing im Alter von 85 Jahren gestorbene Hans Mommsen (wir berichteten).

Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Mommsen, der von 1968 bis 1996 in Bochum Neuere Geschichte lehrte, erstmals im Jahre 1964, als er nachwies, dass die Nazis - anders als lange angenommen - den Reichstagsbrand von 1933 nicht selbst auf den Weg gebracht hatten. Mommsen gehörte bald zu den "Funktionalisten" seiner Zunft, die eine Verlagerung der NS-Forschung weg von der extremen Konzentration auf die Person Hitlers propagierten und stattdessen Wirkungsmechanismen und Strukturen des NS-Machtapparates in den Vordergrund rückten. Folglich legten seinen Forschungen Augenmerk darauf, dass das NS-System nur unter Mitwirkung größerer Bevölkerungsteile habe umgesetzt werden können und die Schuldfrage umfassender zu stellen sei. Jahrzehntelang mahnte Mommsen (zuletzt mit Blick auf Günter Grass ' SS-Vergangenheit 2006), die Deutschen hätten ihre eigene Verstrickung ausgeblendet.

Bekannt wurde Mommsens These, dass der Holocaust aus einer "kumulativen Radikalisierung" resultierte, mithin nicht von vorneherein durchgeplant gewesen sei. Im so genannten Historikerstreit mit Ernst Nolte bezog Mommsen vehement gegen dessen Position Stellung, dass die NS-Verbrechen mit dem sowjetischen Gulag-System vergleichbar seien - die Debatte wirkte lange nach. Als Ende der 90er Jahre die Geschichtswissenschaft von ihrer eigenen NS-Vergangenheit eingeholt wurde - darunter auch Mommsens Lehrer Hans Rothfels und Werner Conze - folgerte er, alle Historiker hätten "Vordenker der Vernichtung im eigenen Lager gehabt". Mommsen blieb bis zuletzt ein streitbarer Kopf.

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