Ein bisschen innerer Frieden

Ein Spaziergängerin sucht im unbekannten Hinterland Londons inneren Frieden. Esther Kinskys Roman „Am Fluss“ ist bewusst ereignisarm, aber reich an Sprachkunst.

 Autorin Esther Kinsky. Foto: Tobias Bohm/ Matthes & Seitz

Autorin Esther Kinsky. Foto: Tobias Bohm/ Matthes & Seitz

Foto: Tobias Bohm/ Matthes & Seitz

Es ist seine bemerkenswerte Sprachqualität, die den Leser nach wenigen Seiten für Esther Kinskys Roman "Am Fluss" einnimmt. Im Vorjahr stand er auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Insbesondere die Naturbeschreibungen zeugen von einer Präzision und Virtuosität, wie man sie in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur nur selten findet. Und doch haben die Einwände gegen dieses Buch letztlich genau damit zu tun.

Je mehr dieser impressionistische, ereignisarme Roman vor sich mäandert, ohne erzählerisch noch Neuland zu betreten und sich folglich alleine von seiner Sprache nähren muss, umso mehr ermüdet einen der ebenso elegische wie genauigkeitsfixierte Kinsky-Ton. "Am Fluss" zelebriert eine Beschreibungsprosa, die nicht über 380 Seiten hinweg trägt.

In London verortet, entwirft das Buch ein untypisches Bild dieser Stadt. Nicht deren Urbanität interessiert, vielmehr ihre Randlagen, ihr Ausfransen in verwilderte Naturgebiete. Kinskys Hauptfigur - Jüdin, beim Radio arbeitend, nach einer Trennung allein unter unausgepackten Umzugskisten wohnend und von ihren Stadtfluchten Fundstücke und Polaroids mitbringend - unternimmt immer wieder einsame Spaziergänge durchs Marschland im Londoner Nordosten. Am River Lea, "im ramponierten Osten der Stadt mit seinen zwielichtigen, anmutsverkümmerten Geländestreifen", sucht sie die Zwiesprache mit Bäumen und Vögeln.

Kinsky (Jahrgang 1956) machte sich als Übersetzerin polnischer, russischer und englischsprachiger Literatur einen Namen. Dass nahezu zeitgleich mit ihrem jüngsten, dritten Roman ihre Neuübersetzung von Henry D. Thoreaus "Lob der Wildnis" erschien, ist kein Zufall. Parallelen drängen sich geradezu auf. Zwar lebt ihr Erzähl-Ich nicht wie Thoreau, dessen in seinem Hauptwerk "Walden" beschriebener Rückzug in die Wälder für Generationen von Aussteigern eine Inspirationsquelle war und ist. Doch Sujet und Gestus ähneln sich. "In der Abgeschiedenheit von Nutzen und Vorhersehbarkeit", wie es bei Kinsky heißt, sucht ihre wohl autobiografisch angelegte Hauptfigur wie Thoreau am Walden-See innere Sammlung.

Dass in diesen stummen Randzonen noch der letzte tote Winkel mit Worten beseelt wird, erweist sich für den Roman als zweischneidiges Schwert. Sein skurriles Personal - ein Kroate, der Flüchtlinge mit Secondhand-Kleidern versorgt und immerzu Neil Young hört; ein lebensmüder Kunstreiter, dem büschelweise das Haar ausfällt; Handleserinnen und Goldsucher - dreht sich wie auf einem Karussell immer wieder mal durch die 37 Kapitel . Als seien es Spielfiguren der Fantasie, auf die gleich bleibend Verlass ist. So wie die Erinnerungen je nach Licht oder Jahreszeit immer wieder mal an anderen Ufern als denen des Londoner River Lea ankern: dem Rhein der Kindheit (vielleicht das zauberhafteste Kapitel ) oder späteren Reiseufern an der Oder, der Tisza, der Neretva, dem Ganges oder dem Yarkon River Tel Avivs.

Überall führen die Dinge ein Eigenleben und konservieren fremdes, unbekanntes Leben. Auf Flohmärkten oder im chassidischen Viertel von London findet die Spaziergängerin die Geheimnisträger, die sie sucht. Es geht ihr nicht darum, den Schleier zu heben, vielmehr durch ihn hindurchzusehen. Täte sie es nicht so ausdauernd in derselben Manier, man müsste "Am Fluss" lieben.

Esther Kinsky: Am Fluss. Matthes & Seitz Verlag,

387 Seiten, 22,90 Euro.

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