Draghi probt Glasnost bei der Euro-Zentralbank

Berlin. Mario Draghi ist ehemaliger Jesuitenschüler. Er gilt als klar, nüchtern, vernunftbetont. Doch außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) weiß: In keinem anderen Euro-Land wird sein Kurs so kritisch gesehen wie in Deutschland

Berlin. Mario Draghi ist ehemaliger Jesuitenschüler. Er gilt als klar, nüchtern, vernunftbetont. Doch außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) weiß: In keinem anderen Euro-Land wird sein Kurs so kritisch gesehen wie in Deutschland.Knapp drei Wochen nach der EZB-Entscheidung zum Ankauf von Staatsanleihen aus Krisenländern - unbegrenzt und unter Auflagen - hat Draghi eine beispiellose Charmeoffensive gestartet. Schließlich hat auch das Bundesverfassungsgericht noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es gilt als nicht ausgeschlossen, dass Karlsruhe das Programm dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfung vorlegt.

Gestern kam der oberste europäische Notenbanker zunächst ins Berliner Kanzleramt, um sich unter vier Augen mit Kanzlerin Angela Merkel zu besprechen. Danach stand ein Auftritt vor deutschen Industriemanagern auf dem Programm. Demnächst will der Italiener seine Euro-Strategie im Haushaltsausschuss des Bundestages darlegen, der Termin ist noch offen. Zuletzt hatte die EZB sogar die Bereitschaft signalisiert, die geheimen Protokolle ihrer Ratssitzungen zu veröffentlichen - Glasnost bei der Notenbank.

Draghis Selbstbewusstsein hat gute Gründe. Seit der Ankündigung der umstrittenen Anleihenkäufe hat der Druck der Finanzmärkte spürbar nachgelassen, die Risikoaufschläge für Anleihen der Krisenstaaten sind teils deutlich gesunken. Die Notenbank hat den Schuldenstaaten also zumindest eine Atempause verschafft, wenn auch weiterhin große Risiken bestehen. Das wird auch von den Kritikern der EZB zugestanden. Selbst die deutsche Industrie sieht Anzeichen der Besserung - auch dank des angekündigten EZB-Programms. Dennoch war Draghis Besuch beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BdI) durchaus ein Gang in die Höhle des Löwen. Was die Industrie vom Kurs der EZB hält, hatte BdI-Präsident Hans-Peter Keitel am Vormittag deutlich gemacht, als er sich unmissverständlich hinter Bundesbank-Präsident Jens Weidmann stellt. Der hatte im EZB-Rat als einziger gegen das Ankaufprogramm gestimmt. Wirtschaftsminister Philipp Rösler warnte vor Inflationsgefahren. Und man werde die EZB daran messen, ob sie die Auflagen für die Anleihenkäufe auch einhalte. Rauschender Beifall war ihm gewiss.

Es wird Draghi aber nicht entgangen sein, dass sich auch die Stimmung in der Bundesregierung gewandelt hat. Merkel hat zuletzt immer wieder deutlich gemacht, dass es aus ihrer Sicht durchaus gute Gründe für den Kurs der Notenbank gibt und dies auch vom EZB-Mandat gedeckt ist - auch wenn sie darauf beharrt, dass die Geldpolitik der Notenbank die Fiskalpolitik der Regierungen nicht ersetzen könne. Zwischen Merkel und Draghi besteht eine seltsame Machtbalance. Viele halten die Kanzlerin für die mächtigste Frau der Welt, die EZB aber für die heimliche Regierung Europas.

Insofern war Draghis Besuch im Kanzleramt durchaus ein Signal - auch wenn es nicht die erste Visite des EZB-Chefs in der Regierungszentrale war. Ob Draghis Transparenz-Offensive aber überall in Deutschland auf Beifall stößt, ist fraglich. Finanzminister Wolfgang Schäuble hatte jüngst kritisiert, dass Beratungen in den EZB-Gremien in Teilen veröffentlicht werden.

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