Analyse Doppelpass als Chance für mehr Integration

BERLIN (SZ/dpa) Der Doppelpass war in Deutschland immer schon ein Reizthema. Man erinnere sich nur an die Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft vor nunmehr fast zwei Jahrzehnten in Hessen.

Ihrem Initiator und damaligen CDU-Spitzenkandidaten Roland Koch bescherte sie seinerzeit einen unverhofften Sieg bei der dortigen Landtagswahl. Zuletzt flammte die Debatte im Zusammenhang mit den Sympathiebekundungen vieler hier lebender Türken für Recep Tayyip Erdogan, den Autokraten vom Bosporus, auf. Nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts behalten mittlerweile sechs von zehn in Deutschland eingebürgerten Menschen den Pass aus ihrem Herkunftsland. Demnach haben im vergangenen Jahr 68 918 von insgesamt 112 211 Eingebürgerten in Deutschland ihre bisherige Staatsbürgerschaft behalten. Das entspricht einer Rekordquote von 61,4 Prozent.

Dass die Doppelstaatler-Quote in den vergangenen beiden Jahren von 54 auf 61 Prozent angestiegen ist, führt die Bundesregierung vor allem auf den Brexit zurück. Ein Sprecher des Innenministeriums verwies in Berlin darauf, dass die Zahl der Einbürgerungen von britischen Staatsbürgern seit dem Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der EU massiv angestiegen sei. Tatsächlich zeigen die Zahlen der Statistiker, dass 2015 nur 622 Briten die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, im Jahr 2017 hingegen 7493 – so viele wie nie zuvor. Und EU-Bürger dürfen ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft grundsätzlich behalten.

Ist der Anstieg per se ein Grund zur Sorge? Nein. Zumal es für das am meisten strapazierte Gegenargument, damit werde die Integration erschwert oder gar unmöglich gemacht, keine praktischen Belege gibt. Lange Zeit basierte die deutsche Staatsangehörigkeit auf dem Abstammungsprinzip. Demnach war nur Deutscher, wer deutsche Eltern hatte. Das änderte sich erst vor vier Jahren. Damals wurde der Zwang aufgehoben, dass sich in Deutschland aufgewachsene Kinder von ausländischen Eltern als junge Erwachsene für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen. Es war eine späte politische Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland längst zum Einwanderungsland geworden war, in dem man gesellschaftliche Vielfalt lebt. Genauso wie übrigens in einer Vielzahl anderer Staaten. Mittlerweile wird der Doppelpass in fast jedem zweiten Land der Erde toleriert.

Die spürbar steigende Zahl der Menschen mit zwei Pässen in Deutschland hat darüber hinaus mit Sonderregelungen für EU-Bürger zu tun und natürlich auch mit den Flüchtlingen. Wenn 2017 beispielsweise kein einziger eingebürgerter Afghane oder Syrer auf seinen ursprünglichen Pass verzichtete, dann auch deshalb, weil das nach den Gesetzen ihrer Herkunftsländer schwerlich oder gar nicht möglich ist.

Nun hat es nicht an Versuchen gemangelt, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen. Für eine Abkehr von der doppelten Staatsbürgerschaft hatte sich die CDU vor zwei Jahren sogar per Parteitagsbeschluss ausgesprochen. Doch was wäre damit gewonnen? Untersuchungen zeigen, dass sich Migranten in Staaten, in denen der Doppelpass erlaubt ist, häufiger einbürgern lassen als in Staaten, die sich dagegen sperren. Was wiederum nahelegt, dass der Doppelpass die Integration eher begünstigt. Seine Abschaffung hätte ein großes Verhetzungspotenzial. Wer das nicht wahrhaben will, der sollte sich noch einmal die Kampagne in Hessen aus dem Jahr 1999 ins Gedächtnis rufen. „Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“, lautete seinerzeit eine oft zitierte Frage. Und an die AfD war damals noch gar nicht zu denken…

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