Die verprellte Türkei

Meinung · Nach der Zustimmung des französischen Senats zum Völkermord-Gesetz hat die Türkei wie erwartet mit Wut und Empörung reagiert. Der Protest richtet sich gegen die Selbstgerechtigkeit, die türkische Politiker in dem Versuch Frankreichs sehen, über historische Ereignisse in anderen Ländern zu richten. An Selbstgerechtigkeit herrscht allerdings auch in Ankara kein Mangel

Nach der Zustimmung des französischen Senats zum Völkermord-Gesetz hat die Türkei wie erwartet mit Wut und Empörung reagiert. Der Protest richtet sich gegen die Selbstgerechtigkeit, die türkische Politiker in dem Versuch Frankreichs sehen, über historische Ereignisse in anderen Ländern zu richten.An Selbstgerechtigkeit herrscht allerdings auch in Ankara kein Mangel. Türkische Politiker beschweren sich über die Einschränkung der Meinungsfreiheit durch das französische Gesetz - sie sollten sich über dieses Thema einmal mit den inhaftierten Journalisten und Akademikern unterhalten, die wegen Büchern, Artikeln und Vorträgen von der türkischen Justiz zu Terroristen erklärt worden sind. Der vor fünf Jahren ermordete armenischstämmige Journalist Hrant Dink wurde kurz vor seinem Tod höchstrichterlich wegen "Beleidigung des Türkentums" verurteilt.

Auch die türkische Klage über die wahltaktische Motivation von Nicolas Sarkozy klingt hohl. Der Versuch, auf dem Rücken eines anderen Landes innenpolitisch zu punkten, ist auch türkischen Politikern nicht fremd.

Zwei Aspekte machen aus dem Völkermord-Gesetz jedoch zu einem schweren Fall für die Türkei. Der eine besteht darin, dass die Franzosen ab sofort nicht mehr nur von einem türkischen Völkermord an den Armeniern sprechen, sondern es ausdrücklich verbieten, dies anders zu sehen. Man stelle sich die europäischen Reaktionen vor, wenn die Türkei mit einem wahltaktisch motivierten Sondergesetz die Bezeichnung "Völkermord" für die Massaker an den Armeniern verbieten würde.

Noch wichtiger: Dieses Gesetz wurde im Herzen Europas und der EU verabschiedet - in jenem Europa, das für die Türken über Jahrzehnte das große Ziel und Vorbild war. Es ist deshalb ein Symbol der Zurückweisung durch ganz Europa. Wie schon beim Schweizer Minarett-Verbot zählt in Ankara vor allem die Botschaft hinter dem konkreten Beschluss. Und die heißt aus türkischer Sicht: Wir wollen euch nicht, ihr gehört nicht zu uns.

Die europapolitische Desillusionierung der Türken wird sich verstärken, die Rolle Europas in der türkischen Außenpolitik dürfte weiter schwinden. Ernste Folgen für ihre EU-Bewerbung müssen die Türken dabei nicht fürchten, weil dort ohnehin nichts mehr vorangeht.

Wenn die Türkei nun noch ein Stück weiter wegrückt von Europa, wird das Politiker wie Sarkozy freuen. Nur muss ihnen klar sein: Sie können nicht die Türkei vor den Kopf stoßen, gleichzeitig aber türkische Solidarität mit Europa erwarten, sei es auf Zypern, sei es im Konflikt mit dem Iran, sei es sonstwo im unruhigen Nahen Osten. Mit dem Beschluss vom Montagabend ist der Nahe Osten für Europa noch unberechenbarer geworden.

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