„Die Situation in Palmyra ist tragisch“

Die Jahrestagung des Unesco-Welterbekomitees von Sonntag an in Bonn steht im Zeichen der drohenden Zerstörung von Palmyra und anderen Wiegen der Zivilisation in Syrien und im Irak. Stellt die Vernichtung solcher Stätten nicht das gesamte Welterbe-Konzept in Frage? Dpa-Mitarbeiter Christoph Driessen hat darüber mit der Unesco-Generaldirektorin Irina Bokowa (62) gesprochen.

Alle sechs Welterbe-Stätten in Syrien stehen auf der Roten Liste der Unesco und werden demnach von Zerstörung bedroht. Zeigt das nicht, dass der Welterbe-Status im Ernstfall überhaupt nichts bringt?

Bokowa: Nein. Zum Beispiel ist im März 2014 das Unesco-Projekt zur Erhaltung des syrischen kulturellen Erbes, finanziert von der EU, ins Leben gerufen worden, um den Schaden einzuschätzen und den Schmuggel mit Kulturschätzen zu bekämpfen. Ähnliche Aktionen gibt es im Irak, mit Unterstützung von Japan.

Aber welchen konkreten Nutzen hat Palmyra denn zurzeit von seinem Welterbe-Status?

Bokowa: Die Situation in Palmyra ist tragisch. Extremisten haben Sprengsätze rund um die Stätte angebracht und bereits erklärt, dass sie die Statuen zerstören wollen, wahrscheinlich noch mehr. Palmyra muss gerettet werden. Das Welterbe-Zentrum beobachtet die Situation vor Ort sehr genau anhand von Satellitenbildern. Wie Sie wissen, hat die Unesco keine Armee - wir können nicht vor Ort intervenieren. Aber wir sichern die Konfliktzone so ab, dass möglichst keine Kulturschätze das Land illegal verlassen. Der Sicherheitsrat hat Resolution 2199 angenommen, die den Handel mit Kulturgütern aus Syrien und dem Irak verbietet. Ich stimme Ihnen zu, dass ein juristischer Text niemals so schnell sein wird wie eine abgefeuerte Rakete. Aber das ist kein Grund, das Recht gering zu schätzen.

Wird die Zerstörung kultureller Stätten durch den IS von der Unesco-Konferenz in Bonn diskutiert werden?

Bokowa: Ja. Eine Entscheidung zu allen gefährdeten Stätten im Zusammenhang mit den Konflikten im Nahen Osten soll vom Welterbekomitee angenommen werden, und wir werden insbesondere über die Kulturstätten im Irak und in Syrien sprechen. Das baut auf einer Resolution auf, die kürzlich auf Initiative von Deutschland und dem Irak von der UN-Vollversammlung angenommen wurde. Sie markiert einen Wendepunkt bei der internationalen Mobilisierung.

Aber ist die bittere Wahrheit nicht die, dass Sie praktisch ohnmächtig sind und nur eine militärische Intervention diese Stätten retten könnte?

Bokowa: Die neuere Geschichte hat uns die Grenzen militärischer Macht bei der Bewältigung solcher Krisen vor Augen geführt. Dies ist auch ein Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen. Wir können Extremismus nicht allein mit Waffen besiegen.

Wenn die Welt nicht fähig ist, einen Ort wie Palmyra vor der Zerstörung zu bewahren, ist es dann überhaupt sinnvoll, in Bonn zusammenzukommen und über andere Stätten zu reden, die nicht an die Stätten in Syrien oder im Irak heranreichen? Man kann die Speicherstadt in Hamburg nicht mit Palmyra vergleichen.

Bokowa: Es ist weder möglich noch produktiv, Welterbestätten miteinander zu vergleichen. Jede ist bedeutend, und es ist unser Auftrag, dieses Erbe zum Nutzen künftiger Generationen zu bewahren, von der Ruinenstadt Macchu Picchu in Peru zum Great Barrier-Riff, vom Virunga-Nationalpark zum Kölner Dom.

Über Palmyra wird zumindest gesprochen. Aber wäre es nicht viel wichtiger, die Menschen in dieser Region zu retten? Sind wir derzeit zu stark fixiert die Kulturstätten?

Bokowa: Das ist genau die pervertierte Denkweise, die uns die Extremisten aufzwingen wollen. Es ist doch klar, dass der Schutz menschlichen Lebens oberste Priorität haben muss. Aber lassen Sie mich in Erinnerung rufen, dass die Extremisten nicht zwischen Menschenleben und kulturellem Erbe unterscheiden: Sie greifen beides an, in einer globalen Strategie der kulturellen Säuberung mit dem Ziel, alle Formen von kultureller Diversität und freien Denkens zu vernichten. Unser kulturelles Erbe steht für Werte, Identität und Zugehörigkeit. Es ist eine Quelle des Widerstandes. Kriegsherren wissen das. Das ist der Grund, warum sie die Zerstörung von Kultur als ein Mittel der Kriegsführung einsetzen, um Gesellschaften zu spalten und die größtmögliche mediale Aufmerksamkeit zu erzielen. Wir haben das in Afghanistan gesehen, in Mali und jetzt im Irak und in Syrien, wo Extremisten Menschen aus religiösen und kulturellen Gründen verfolgen und versuchen, alle Spuren der Geschichte in einer Region auszulöschen, die eine Wiege der menschlichen Zivilisation ist.

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