Die Schwaben in der Seitenflügelzange

Stuttgart

Stuttgart. Vor dem Hintergrund, dass der Krieg und die Modernisierungswut der Fünfziger Stuttgart viel von seiner Bausubstanz geraubt haben - weshalb das noch Gebliebene heute schnell heilig gesprochen wird - , fühlt sich "Stuttgart 21"-Architekt Christoph Ingenhoven mitterweile "als Zielscheibe für die aktuell grassierende Kritik an der Moderne schlechthin", wie er gerade in einem Interview mitgeteilt hat. Den Protest gegen den derzeitigen Nordflügel-Abriss des denkmalgeschützten, 1927 fertig gestellten Bahnhofs von Paul Bonatz nennt er "unverhältnismäßig". Tatsächlich werde er in weiten Teilen saniert und "in den würdevollen Zustand zurückkommen, den er in unseren Augen derzeit nicht hat", behauptet Ingenhoven. 1997 hatte sein Düsseldorfer Büro einen europaweiten Wettbewerb mit dem Ziel einer grundlegenden Bahnhofsumgestaltung gegen 125 beteiligte Büros für sich entschieden. Seither gab es unzählige Querelen und Gutachten. Nun haben, juristisch ist das völlig gedeckt, die Bagger das Sagen.Einerseits will Ingenhoven die "entstellte" monumentale Bahnhofshalle "wiederherstellen", andererseits diese aber "so verändern, dass sie die Benutzer in den unterirdischen neuen Bahnhof leitet", kündigt er an. Ein aus Sicht seiner Kritiker zwielichtiges Sowohl-als-auch-Prinzip, das erneut Wasser auf die Mühlen der Verteidiger des Bonatz-Baues leiten dürfte. Die schwäbische Bevölkerung ist ohnedies mehrheitlich gegen das Projekt, dessen Frustrationspotenzial so gewaltig ist, dass es - nicht zuletzt, weil sich die Grünen als große Bestandsschützer gebärden - gar die Landtagswahl im Frühjahr mit entscheiden könnte. Selbst das konservative Bürgertum (und damit Stammwähler des CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus) muckt auf, nicht allein vom Gigantismus verschreckt, sondern alarmiert von der Abgehobenheit heutiger Politik. Angesichts dieser Gefechtslage ist der Denkmalschutz in Stuttgart Teil eines Stellvertreterkrieges geworden, in dem der Bonatz-Bau - juristisch vergeblich - als Hebel herhalten sollte, um das Gesamtprojekt zu torpedieren. Dessen Kern ist die Umwandlung des 17-gleisigen Kopf- in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof mit Flughafenanbindung, der sich nicht zuletzt nahtlos in die Ost-West-Transversale (Paris-Straßburg-Stuttgart-München-Wien-Bratislava) einfügen soll.Für "Stuttgart 21" soll der seit 1987 als Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung eingestufte Bonatz-Bau (die höchste Kategorie nach dem baden-württembergischen Denkmalschutzgesetz) an seinem Nordflügel in Höhe der Bahnsteighalle abgerissen werden und nach Süden hin seinen Schlossgartenflügel komplett einbüßen. Ingenhoven versichert, er wolle nach dem Vorbild von David Chipperfields mustergültiger Paarung von Alt und Neu im Berliner Neuen Museum, auch in Stuttgart "Fragmente sichtbar lassen, Abbruchmaterial wiederverwenden und Brüche erkennbar machen". Wobei er keinen Zweifel daran lässt, dass die Seitenflügel verschwinden werden. Ihr Erhalt sei "technisch absolut unmöglich". Notwendig scheint ihr Abriss nicht zuletzt aus ganz anderen Gründen: Die Seitenflügel würden die von großen Belichtungskuppeln rhythmisierte "Platz- und Parklandschaft" hinter dem verbleibenden Bonatz-Bau zerschneiden. Und damit verhindern, "die Schönheit des gesamten neuen Projekts an dieser Stelle zu gestalten", wie Ingenhoven der FAZ in aufschlussreichen Worten anvertraute. Für den Vorsitzenden der Stiftung Baukultur, Michael Braume, wäre eine Rettung des gesamtes Bahnhofes dagegen sehr wohl möglich. Verhindert werde dies, so Braume, einzig durch "fatale Vorgaben" der Deutschen Bahn. Zu den profiliertesten Kritikern von "Stuttgart 21" gehört inzwischen ausgerechnet einer seiner Mitschöpfer: Ingenhovens alter Lehrmeister, der Architekt Frei Otto, der zwischen 1997 und 2003 den Tiefbahnhof und seine charakteristischen Lichtaugen mit entworfen hat. Frei spricht heute von unkalkulierbaren technischen Risiken. "Wenn wir beim Entwurf den heutigen Informationsstand gehabt hätten, wäre ich bestimmt von der Idee eines Tiefbahnhofs abgerückt", erklärte er dieser Tage. Otto macht insbesondere geologische Einwände geltend: Der in Grundwassertiefe reichende Tiefbahnhof fuße auf einer 400 Meter langen und 100 Meter breiten Betonwanne. Diese sei in dem lehmigen Baugrund unter dem Schlossplatz nicht sicher zu verankern, warnt Otto. Für ihn ist das Ingenhoven-Projekt in diesen 13 Jahren so sehr zerredet worden, dass ihm nun "die psychologische Stütze" fehle. Genau davon geben die Montagsdemos ein beredtes Zeugnis.

HintergrundWährend bei den Kritikern des Sieben-Milliarden-Euro-Projekts "Stuttgart 21" lange geologische und verkehrstechnische Einwände überwogen, hat der Protest inzwischen eine architektonische Komponente. Der Abriss der Seitenflügel des denkmalgeschützten Bahnhofs von Paul Bonatz, in den Diskussionen lange eine Nebensache, ist jetzt der Kristallisationspunkt der Kritiker. Nun heißt es, "Europas letzte Verkehrskathedrale" würde durch den Teilabriss zum Torso herabgestuft. Die rechtlichen Mittel dagegen sind ausgeschöpft. Eine Urheberrechtsklage von Bonatz' Enkel scheiterte. cis

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