Die Misstöne werden überhört

Brüssel · Bundeskanzlerin Angela Merkel kann mit dem EU-Gipfel zufrieden sein. Ihre zentralen Forderungen wurden erfüllt oder kritische Punkte in den Herbst verschoben. Doch viele drängende Fragen bleiben unbeantwortet.

Als der "Gipfel der guten Laune" am Freitagmittag zu Ende war, konnte die Bundeskanzlerin zufrieden sein. Der umstrittene EU-Etat steht. Das Sechs-Milliarden-Programm für arbeitslose Jugendliche war auf den Weg gebracht worden. Der Beitritt Lettlands zur Euro-Zone war beschlossen. "Es war ein erfolgreicher Gipfel", gab sich Angela Merkel bemüht zurückhaltend. Tatsächlich war alles nach Wunsch für die CDU-Vorsitzenden gelaufen. Für den beginnenden Wahlkampf zuhause braucht man gute Nachrichten.

Die bekam sie, die schlechten wurden verschoben. "Deutschland bremst die EU derzeit massiv aus", sagte ein ranghoher Teilnehmer des Treffens der Staats- und Regierungschefs offen. Eigentlich sollte Gipfel-Chef Herman Van Rompuy neue Vorschläge zum Umbau der Währungsunion vorlegen. Die hatte er auch vorbereitet, musste sie aber wieder mitnehmen. In seinen Unterlagen steckte viel Revolutionäres wie die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, "Hindernisse für den Binnenmarkt" endlich zu beseitigen. Beobachter hatten schon vorab in den Begleitpapieren entdeckt, dass der Belgier dabei auch an eine Abschaffung des deutschen Meisterbriefes denkt. Ein Streit, den die wählkämpfende Kanzlerin nicht brauchen kann.

Nur einmal geriet das harmonische Gefüge doch ins Wanken. Mitten in der Nacht zum Freitag torpedierte Londons Premier David Cameron plötzlich die frisch gebackene Einigung über den EU-Etat. Seine Fachleute hatten nämlich festgestellt, dass durch den Entwurf auch die Berechnungsgrundlage für den so genannten Briten-Rabatt verändert wird. Diese Rückerstattung von derzeit 3,6 Milliarden Euro erhält die Insel seit 1984, weil sie den Agraretat mitfinanziert, selbst aber kaum Landwirtschaft vorweisen kann. Cameron forderte einen Zuschlag. Der hätte vor allem Frankreich getroffen, was Präsident François Hollande zu einem strikten "Non" veranlasste. Am Ende legten alle zusammen, so dass der britische Regierungschef zuhause 200 Millionen Euro mehr vorweisen kann. Der "Gipfel der positiven Botschaften" war gerettet.

Doch im Untergrund gärt es. Erst am Donnerstag warf der höchste Brüsseler Beamte in Energiefragen, der Chef der zuständigen Generaldirektion Philip Lowe, Berlin "folgenschwere Passivität auf europäischem Parkett" vor. Wirtschafts- und Umweltministerium blockierten sich gegenseitig, so dass Deutschland "ohne Meinung" auftrete. Das passt zum Bild des Gipfels. "Verschieben statt anpacken" als Methode. Beispiel Krisenstaaten: Der aufkommende Eindruck, man müsse sich um die Problemkinder im Süden der Union derzeit nicht kümmern, weil alles läuft, ist schlicht falsch.

Trotz großen Lobs der Troika kommt Portugal nicht voran. Experten sprechen inzwischen offen von einem Schuldenschnitt, der im Herbst nötig werden könnte. Und auch Griechenland macht weiter große Sorgen. Ein zweiter Verzicht der Gläubiger rückt näher. Zypern braucht ganz offensichtlich deutlich mehr Geld, als die Euro-Partner zugesagt haben. Doch von all dem wollte man dieses Mal in Brüssel nichts wissen. Und der nächste Gipfel folgt erst im Oktober. Bis dahin steht fest, ob es Merkels nächster oder ihr letzter ist.

Eine Zahl "aus dem Arsch gezogen"



Dublin. "Deutschland, Deutschland über alles", singt der Banker und sein Kollege kann sich vor Lachen kaum halten. Sie machen sich lustig über deutsche Anleger, die immer noch in irische Banken investieren wollen. "Diese Scheiß-Deutschen", nennt der Banker seine naiven Kunden vom Kontinent, denen er das Geld aus der Tasche ziehen wird. Es handelt sich um David Drumm, den Chef der "Anglo Irish Bank" (AIB), und John Bowe, einen seiner Top-Manager, die sich hier austauschen. Ihr Telefongespräch vom September 2008 wurde von der Zeitung "Irish Independent" veröffentlicht. Es hat weltweit Empörung ausgelöst.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die beim EU-Gipfel in Brüssel auf das Telefonat angesprochen wurde, sagte, dass sie dafür "wirklich nur Verachtung" übrig habe. Die Haltung dieser Banker, meinte sie, sei eine "richtige Schädigung der Demokratie, der sozialen Marktwirtschaft und allem, wofür wir arbeiten".

Die Situation: Herbst 2008, kurz nach der Pleite der Investmentbank "Lehman Brothers", die zur weltweiten Finanzklemme geführt hat: Keine Bank will einer anderen mehr Geld leihen. Die AIB sitzt auf einem Berg von Schrottkrediten und weiß, dass man bald selbst Bankrott anmelden muss.

Um einen Kollaps des Systems zu verhindern, hatte die irische Regierung eine umfassende Garantie für alle Verbindlichkeiten der irischen Banken abgegeben. Die AIB nutzt dies schamlos aus, indem sie, wie die Gespräche belegen, der Regierung vorspiegelt, dass die Schulden nur sieben Milliarden Euro betragen - eine Zahl, die er, wie es John Bowe es ausdrückte, sich "aus dem Arsch gezogen" habe. Tatsächlich hat es den irischen Staat am Ende 30 Milliarden Euro gekostet, um die Schulden der Banker zu zahlen. Die EU und der Internationale Währungsfonds mussten im November 2010 mit einem Rettungspaket von 85 Milliarden Euro die Staatspleite abwenden. jwi

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort