Die Lust am ZweifelnDas Staunen als Quelle der Kunst

Saarbrücken. Goethe ist ihm am liebsten. Vor ein paar Jahren hat er sich in dem Aufsatzband "Der Schein trügt nicht. Über Goethe" mit den naturwissenschaftlichen Studien des Dichterfürsten beschäftigt. Die Natur als eine das menschliche Maß übersteigende Macht, die wir nie vollends beherrschen werden

Saarbrücken. Goethe ist ihm am liebsten. Vor ein paar Jahren hat er sich in dem Aufsatzband "Der Schein trügt nicht. Über Goethe" mit den naturwissenschaftlichen Studien des Dichterfürsten beschäftigt. Die Natur als eine das menschliche Maß übersteigende Macht, die wir nie vollends beherrschen werden. Das war so recht nach dem Geschmack des einstigen Gymnasiallehrers, der nie bestritt, dass Literatur auch einen belehrenden Charakter haben müsse. Adolf Muschg ist der klassische poeta laureatus, ein Autor, dessen Sprachstil sich durch Artistik, Eleganz und Weltläufigkeit auszeichnet. In dem Aufsatz "Öffentlichkeit als Versteck" hat er sich seinerzeit über sein Schreiben, über die Beweggründe geäußert. Schreiben als etwas, das ihm "die Befangenheit des sprachlich gebrannten Ich gegenüber den Dingen abgewöhnen" sollte. Und das reicht bei ihm lange zurück: "Da muss es wohl ein Bedürfnis gegeben haben, besonders gut sein zu wollen."Dieser deutschschweizerische Autor aus Zollikon im Kanton Zürich hat fast drei Jahrzehnte als Literaturprofessor gelehrt. Mitte der Sechziger betrat Muschg mit seinem in Japan spielenden Roman "Im Sommer des Hasen" die literarische Bühne. Seitdem ist sein Werk auf viele Bände angewachsen. Und immer wieder spielte dabei seine Erfahrung mit Japan, sein Faible für dieses ferne Land, eine wichtige Rolle. Es folgten Romane wie "Gegenzauber", "Mitgespielt" und "Albissers Grund", wo er das Scheitern der 68er literarisch verarbeitete. Vor allem aber hat ihn damals sein Landsmann Gottfried Keller beschäftigt, über den er eine vielbeachtete Monographie und ein Theaterstück - "Kellers Abend" - geschrieben hat. Keller - auch er ein introvertierter Revolutionär, ein Trauerarbeiter an seinen Idealen von 1848.Wie viele Autoren seiner Generation haderte auch Muschg mit dem eigenen Herkunftsort. "Die Schweiz am Ende - am Ende die Schweiz?" hieß sein essayistischer Beitrag, in dem er sich kritisch mit der im Land herrschenden Selbstgefälligkeit auseinandersetzte. In den achtziger Jahren erschien das Opus magnum - der Parzival-Roman "Der Rote Ritter". Muschg blieb hier auf den Schultern der Vorlage des Wolfram von Eschenbach. Aber dessen Weltanschauungsdilemma zwischen profaner Weisheit und christlicher Offenbarung wird bei Muschg zum Epos vom Weg der Bildung und vom Wunder der Erwählung.Wie gut er es versteht, die Wohltat des Zweifels und des Widerspruchs zur freundlichen Sachlichkeit einzuholen, bewies Muschg auch als Präsident der Berliner Akademie der Künste, die er nach drei Jahren verließ, als er gegen die Gralshüter der Stagnation im Senat der Akademie nicht mehr ankam. Heute wird er 75 Jahre alt.Saarbrücken. Was macht das Wesen literarischer Kunst aus? Wann ist sie bloße Konsumware, produziert allein um den Effekt der Wiedererkennung willen und bequeme Erwartungen erfüllend? Diesen Fragen geht Adolf Muschg in seiner Rede nach, die er 2007 anlässlich des Europäischen Schriftstellerkongresses in der Saarbrücker Stiftskirche St. Arnual gehalten hat. Der Gollenstein Verlag hat "Etwas, das noch keiner gesehen hat" Ende 2008 als Buch herausgebracht - eine kleine Poetik, eine philosophische Anleitung zu Grundzügen und Wahrhaftigkeit der Schreibkunst. Basis der Kunst ist die sensible Wahrnehmung, die das Besondere erkennt. Im Neu-Gesehenen zeige sich die Radikalität eines Textes. "Und dieses ursprüngliche Staunen des Subjektes vor dem Objekt kümmert sich um keine Hierarchie der Themen". Laut Muschg liegt im Staunen der poetische Blick begründet. Literatur ist die Kunst des ungesuchten Findens eben dessen, was noch keiner so gesehen hat. Muschgs Sätze münden ausnahmslos in hieb- und stichfeste philosophische Analyse, dicht gewebt, folgerichtig und genussreich zu lesen. Und sie übt Gesellschaftskritik: am alles umfassenden Konsum, dem flirrenden Dauerrauschen einer flachen Welt, der Intimität und Diskretion abhold ist. rr

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