Die Literatin und ihre Retortenmänner
Saarbrücken · Mit umstrittenen Äußerungen zur Reproduktionsmedizin schaffte es die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff in den vergangenen Wochen in die Schlagzeilen. Am Donnerstag war sie zu Gast an der Saar-Uni. Würde Sie wieder über „Halbwesen“ fabulieren?
Am besten ist Sibylle Lewitscharoff, wenn sie über das Schreiben und ihre Bücher spricht. Vermutlich blieben deshalb kritische Fragen zu ihren jüngsten Äußerungen zur Reproduktionsmedizin und den von ihr geschaffenen "Halbwesen" bei ihrer Lesung an der Universität des Saarlandes aus. Eingeladen hatte am Donnerstag die Fachrichtung Germanistik im Rahmen des Seminars "Sommer der Gegenwartsliteratur", womit das Barometer durchgehend Sonnenschein anstatt Frost anzeigte, was ohnehin angenehmer ist. Man muss schließlich nicht jeden Medienzirkus mitmachen. So war keine Rede von Lewitscharoffs Entgleisungen - nicht in der Einführung von Johannes Birgfeld, der noch einmal die an Lewitscharoff verliehenen Auszeichnungen (darunter den Büchner-Preis 2013) aufzählte; und nicht in den klaren, stets freundlichen Fragen seiner Studierenden.
Hier ging es nicht um die Umstände, wie Leben, sondern wie die Literatur Lewitscharoffs entsteht, und was ihr Schreiben über ihre verschiedenen Bücher hinweg zusammenhält. Dafür darf, ja muss konstruiert, kombiniert und projiziert werden, was literarische Form, Motive und Figuren betrifft, wie Lewitscharoff sehr offen und präzise erklärte.
In der Literatur scheint notwendig erlaubt, was ihr in der Medizin verwerflich scheint: Leben aus der Retorte zu schaffen, das Geschlecht zu wechseln und sich als Autorin einen Mann, gerne auch gleichaltrig, zur Hauptfigur zu wählen, denn in ihn "kann ich alles hineinprojizieren". Anders als bei einer Frauenfigur weil hier die Nähe zu sich zu groß ist, und "ich bin ja nicht da, um über Sibylle Lewitscharoff zu schreiben". "Autobiografisches Schreiben halte ich zu 99 Prozent für unnötig", sagt sie - und setzt dagegen ihr Werk. Darin erlöste sie den Philosophen Hans Blumenberg beziehungsweise sich als Autorin ihres gleichnamigen Romans durch "Beigabe" eines in dessen Arbeitszimmer platzierten Löwen vom "Biographismus" und war frei, über die Frage nach dem Realen und Irrealen zu handeln sowie reihenweise Studenten dem Tod anheim fallen zu lassen, "weil ich sie alle in der platonischen Höhle haben wollte." Darin ist alles möglich, und das nutzt Sibylle Lewitscharoff aus.
Egal, ob ihr aktuelles Buch, der Kriminalroman "Killmousky" nun bei der Kritik ankommt oder nicht - er ist für sie "eine andere Art von Schreibprogramm", was Handlungsführung, Sprache und die Konstellation betrifft. Und ein "Vergnügen" ist es überdies, einen Mann aus der Unterschicht mit marginalen Englischkenntnissen auf den New Yorker Geldadel treffen zu lassen. Zum Abschluss ihrer zeitlich perfekt geschnittenen Lesung folgte noch "Pong redivivus", für dessen Vorgänger sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt und als Wiedergänger den Kreis ihrer Retortenmänner erweitert. Sie zu erschaffen, bleibt für Sibylle Lewitscharoff das Kerngeschäft der Literatur und deren Vorrecht. Da scheint es nur folgerichtig, dass sie sich das nicht von der Realität streitig machen lässt.