Die Gewalt ist immer und überall

Mit ihrem Buch „Schrei nach Freiheit. Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution“ ist Samar Yazbek als mutige Kämpferin für Bürger- und Frauenrechte in Erscheinung getreten. Nun kommt ihr erster Roman bei uns heraus.

Die Journalistin Samar Yazbek, geboren 1970, führt ein Leben, das gegen die Konventionen verstößt, die für eine Frau in ihrer Heimat Syrien gelten. Denn auch in der Oberschicht , aus der sie stammt, herrschen die patriarchalen Zwänge. Der Grund ihrer Flucht nach Europa aber liegt in ihrer Kritik am Assad-Regime, 2011 musste sie Damaskus verlassen und lebt seither in Paris. Ihr Roman "Die Fremde im Spiegel" erschien im Original 2008, also vor dem Ausbruch des Krieges. Doch die Situation der Frauen wie auch die massiven Ungerechtigkeiten innerhalb der syrischen Gesellschaft haben sich seither noch verschärft - und darum geht es in dem verstörenden Text, der nur auf den ersten Blick eine lesbische Liebesgeschichte erzählt.

Das Mädchen Alia wird von ihrem Vater an die reiche Hanan quasi verkauft. Ihr bisheriges Leben ist von größter Armut, einem prügelnden Vater und einer allgegenwärtigen Gewalt geprägt - diese Brutalität, das zeichnet die Autorin in nachdrücklichen, teilweise schwer auszuhaltenden Szenen nach, - wird von Männern ausgeübt und richtet sich insbesondere gegen Mädchen und Frauen. Hanan gehört der Oberschicht an. Die Gewalt hier ist subtiler, aber ein selbstbestimmtes Leben ist den Frauen auch hier nicht möglich. Hanan wurde gegen ihren Willen verheiratet, sie verachtet ihren Mann.

Alia arbeitet als Dienstmädchen - und sie wird die Geliebte Hanans. Als diese Alia im Bett ihres Mannes vorfindet, mit dem sie in einer Mischung aus Provokation und Rache eine sexuelle Beziehung eingegangen ist, wirft sie Alia in großer Wut aus dem Haus.

Das ist der Ausgangspunkt des Romans. Nun erzählt die Autorin abwechselnd aus beider Perspektiven von den gemeinsamen Jahren und auch aus beider Leben zuvor. "Bevor Alia ihr Nachthemd angezogen hatte und vom Zimmer der Herrin in ihr eigenes zurückgekehrt war, wie Hanan al-Haschimi es von ihr verlangt hatte, hatte sie in ihren Augen so viel Liebe und Erfüllung gesehen und darüber selbst einen Glückschauer verspürt." In diesen wenigen Worten, "gesprochen" in der Rückschau Alias auf die betreffende Nacht des Rauswurfs, kommen die Ambivalenz, das Macht-und Abhängigkeitsverhältnis auf den Punkt, die der Beziehung der beiden Frauen zugrunde lagen. Denn Hanan bleibt immer die Herrin - auch wenn sie ihrerseits von der Zuwendung der sehr jungen Frau abhängt, da diese ihr Lichtblicke in einem ansonsten fremdbestimmten Leben schenkt. Sie behandelt Alia wie ihr Eigentum und setzt die Ausbeutung im Bereich des Sexuellen fort. Alia wiederum profitiert von ihrer Art Einfluss auf die "Herrin", es ist ihre einzige Art vermeintlicher Macht. Die gegenseitige Abhängigkeit wurzelt in den Versehrtheiten, die beide Frauen aus ihren jeweiligen Zurichtungen erfahren haben. Beide sind auf verschiedene Weise zutiefst verletzt worden.

Yazbek gelingt es eindrücklich, die gesamtgesellschaftliche Frauenunterdrückung mit der Thematik der drastischen sozialen Unterschiede und Ungerechtigkeiten in Syrien zu verbinden. Der Roman löste dort eine große Debatte aus. Uns gewährt er ungewöhnliche Einblicke.

Samar Yazbek: Die Fremde im Spiegel. Nagel & Kimche, 156 Seiten, 17,90 Euro.

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