Die dünne Haut des Recep Erdogan

Istanbul · Kurz vor der vielleicht wichtigsten Wahl seines Lebens hat Recep Tayyip Erdogan gestern eine empfindliche Schlappe erlitten. Ein Verwaltungsgericht in Ankara ordnete auf Antrag der türkischen Anwaltskammer, eines Journalistenverbandes und eines Oppositionspolitikers an, die Zugangssperre zum Kurznachrichtendienst Twitter sofort aufzuheben.

Die Regierung sagte eine Umsetzung des Urteils zu, doch blieb der Twitter-Zugang zunächst weiter gesperrt.

Erdogan selbst hatte kurz zuvor das Verbot erneut gerechtfertigt und indirekt mit einer Sperre auch für YouTube gedroht. Die Videoplattform ist neben Twitter das Hauptinstrument bei der Veröffentlichung immer neuer Korruptionsvorwürfe gegen ihn, die sich meist auf mitgeschnittene Telefonate des Regierungschefs stützen. Erdogan ließ Twitter deshalb vorigen Freitag in der Türkei sperren, was weltweite Kritik auslöste. Der Premier sieht darin keinen Verstoß gegen demokratische Prinzipien. Und seine religiös-konservative Stammwählerschaft steht unbeirrt hinter ihm.

Ein Besuch in einem kleinbürgerlichen Viertel Istanbuls zeigt, warum Erdogan nach wie vor so stark ist. Hier wohnen Arbeiter und kleine Handwerker, die meisten wählen die Regierungspartei AKP. "Die Sache mit der Korrupution glauben wir nicht", sagt Mehmed Kahraman, der seinen Freunden beim Kartenspiel zuschaut. "Da steckt Israel dahinter", ruft einer empört dazwischen. Erdogans Twitter-Verbot wird ebenfalls gutgeheißen: "Wir sind ein muslimisches Land, solche Sachen mögen wir nicht."

Der Ausgang der Kommunalwahlen am Sonntag, die nach den Gezi-Protesten, dem Korruptionsskandal und dem Twitter-Verbot einer Volksabstimmung über Erdogan gleichkommen, ist offen. Umfragen sagen Verluste für die AKP voraus, die aber mit 35 bis 45 Prozent wohl stärkste Kraft bleibt. Für Erdogan steht, genau 20 Jahre nach seinem politischen Durchbruch bei der Wahl zum Bürgermeister von Istanbul, viel auf dem Spiel. "Es herrscht eine Atmosphäre wie bei einer Parlamentswahl", sagt er. Gekämpft wird mit harten Bandagen. Die Enthüllungen im Internet bezichtigen Erdogan, ein illegales Vermögen angehäuft, Gerichtsverfahren beeinflusst und Medien unter Druck gesetzt zu haben. Der Premier kontert mit dem Vorwurf, Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen hätten sich gegen seine Regierung verschworen und verbreiteten deshalb Lügen.

Die heftige Wahlschlacht zeigt eine Polarisierung der Gesellschaft, die schon im vergangenen Jahr bei den Protesten gegen ein Bauvorhaben Erdogans im Istanbuler Gezi-Park sichtbar wurde: Für einen Teil des Landes ist der zunehmend autoritäre Stil des seit elf Jahren regierenden Premiers ein Alarmzeichen, für den anderen Teil ist er ein Segen. Erdogan sei der herausragende politische Führer der Türkei der letzten hundert Jahre, schwärmte Familienministerin Aysenur Islam vor wenigen Tagen. Gegner des Regierungschefs warnen dagegen, Erdogan werde die Grundlagen der Demokratie, etwa die Gewaltenteilung, vollends zerschlagen. "Er versucht, das Land ganz alleine zu regieren", sagt der Politologe Sahin Alpay.

Auch für Millionen andere Bürger ist Erdogan inzwischen ein großes Problem. Zu viele gesellschaftliche Gruppen hat er in den vergangenen Monaten vor den Kopf gestoßen, ein bloßes "Weiter so" erscheint deshalb unmöglich. Ein durch Korruptionsvorwürfe angeschlagener Ministerpräsident, der dennoch einen Teil des Landes hinter sich hat - diese Mixtur stellt das Land am Sonntag vor schwierige Fragen.

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