Die Blinde und der Seher

Saarbrücken. Franz Anton Mesmer war der Arzt, dem die Frauen vertrauten und dem die Wiener Hofmediziner die Pest an den Hals wünschten

Saarbrücken. Franz Anton Mesmer war der Arzt, dem die Frauen vertrauten und dem die Wiener Hofmediziner die Pest an den Hals wünschten. Lange vor Freud setzte er Gesprächstherapie und Hypnose ein; das wurde ihm 1777 zum Verhängnis, als Maria Theresia Paradis, die blinde Sängerin und Komponistin, der unter seinen charismatischen Händen die Augen aufgegangen waren, einen Rückfall erlitt: Mesmer wurde der Scharlatanerie bezichtigt und floh nach Paris.

In seinen Magnetzubern brodelte ein merkwürdiges Gebräu aus alten magischen und alchemistischen Vorstellungen und neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Er experimentierte, ganz im Geiste der Aufklärung, mit Elektrisiermaschinen und war doch in mancher Hinsicht ein Pionier der Psychosomatik, der erste Alternativmediziner: Sein "Fluidum" gilt noch heute Esoterikern und Bioenergetikern als abendländische Entsprechung zu Prana, Chi und Chakren.

Für die Romantiker war der dämonische "Magnetiseur" eine dankbare Figur: E.T.A.Hoffmann und Poe ließen sich von ihm zu Schauergeschichten inspirieren, und noch Schopenhauer rühmte seinen animalischen Magnetismus als "inhaltsschwerste aller je gemachten Entdeckungen". So geistert Mesmer bis heute durch Medizingeschichte, Literatur und Film: Peter Sloterdijk beschrieb ihn in seinem Roman "Der Zauberbaum" als Vorläufer Freuds (und Bhagwans), Per Olav Enquist ("Der fünfte Winter des Magnetiseurs") als zwielichtigen Verführer, Roger Spottiswoode in seinem Kostümfilm "Mesmer" (1993) als Frauenflüsterer und zu früh gekommenen Revolutionär.

Alissa, die malende und schreibende Tochter Martin Walsers, hat, schon aus persönlichen Gründen, einen anderen Zugang: Ihr Mesmer ist, wie sie, ein Kind des Bodensees, das es zeitweilig nach Wien verschlug, Tier- und namentlich Hundefreund, vor allem aber ein somnambuler Künstler. Er rückt den Leidenden nicht mit dem Seziermesser der Begriffe, Fakten und Methoden auf den Leib: Er nähert sich den Geheimnissen von Natur und Kreatur auf sanfte, quasi "feinstoffliche" Art, mit sinnlich-poetischer Sensibilität. Ob seine Magnetkur bei Jungfer Paradis anschlug, ist für Walser zweitrangig: Genug, dass Mesmer die stockenden Säfte eines durch patriarchalisch-autoritäre Erziehung, Mode und Hofzeremoniell verschnürten Körpers wieder ins Fließen brachte, eine zum "irre gewordenen Automaten" abgerichtete Frau von Verklemmungen befreite. Sprache ist für Mesmer wie Walser kein rationales Instrument, keine Kommunikationstechnik, sondern ein melodisch strömendes "Fluidum", das sich nichts beweist.

Mit zerbrechlicher Stimme, leise, aber stets hellwach, beschreibt die 48-Jährige das Zusammentreffen zweier Außenseiter: Hier die dressierte "Klavieristin", lebendig begraben unter Perücken und Puder; dort der einfühlsame Arzt, der zum Scharlatan abgestempelt wird. Walser idealisiert beide nicht. Ihr Mesmer ist weder Held noch Heiliger, sondern ein ehrgeiziger Doktor Faust, der für gesellschaftliche Ambitionen sein sanftes Gesetz verrät. Seine Patientin ist keine schmachtende Kameliendame, sondern ein nervöses, überspanntes "Pudergespenst", das sich verzweifelt an Vogelnestfrisuren, Privilegien und Extravaganzen klammert. Und doch vollzieht sich in der magnetischen Berührung der Hände eine Art Wunderheilung. Die blinde Musikerin gewinnt für einen Moment ihr Augenlicht, die misshandelte Frau ihr Selbstbewusstsein zurück - und verliert dabei ihre Virtuosität; sie ist nicht mehr Vaters Püppchen, aber Mesmers Geschöpf. So wird die Kranke auf Kosten der Kunst und ihres absoluten Gehörs geheilt und ihr Heiler heillos krank.

Das entspricht vielleicht nicht der Historie. Aber Walser hat nicht umsonst Sylvia Plath übersetzt. Für sie sind Frauen (und Tiere) die Hüter eines animalischen Magnetismus; das macht sie zu Opfern und Versuchskaninchen einer männlich-bornierten medizinischen Vernunft, die Ungeheuer, Neurosen und Eiterbeulen gebiert.

Walser hat schon in zwei gefeierten Erzählbanden ein feines Gespür für die subtilen Spannungen und Abgründe zwischen den Geschlechtern gezeigt. Jetzt, nach fast zehnjähriger Pause, beschreibt sie in ihrem ersten Roman die Beziehung zwischen der sehenden Blinden und dem geblendeten Seher als Modell sprachloser Verständigung zwischen Mann und Frau, Arzt und Patientin, Wissenschaft und Kunst. "Am Anfang war die Nacht Musik" ist kein historischer Ideenroman à la Kehlmann, aber so mesmerisierend wie ein Bad im magnetischen Zuber.

Alissa Walser: Am Anfang war die Nacht Musik. Piper Verlag, 253 Seiten, 19,95 Euro.

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