Die Banalität des großen Tötens

Der 1. August 1914 ist ein Samstag: Der Buchhalter Anthime nutzt den prallen Sommertag für einen Ausflug.

Auf seinem Rad dreht er sich die kleinen Hügel der Vendée hinauf, tiefe französische Provinz. Bald pustet ruppiger Wind die Beschaulichkeit fort. Im Dorf geht die Sturmglocke, die Mobilmachung für das große Sterben beginnt. Ahnungslos sind sie nicht nur in der Vendée: Der Krieg ist in ein paar Wochen vorbei, glauben fast alle. Und erleben ihn wie eine Befreiung aus dieser entsetzlich aufgestauten Zeit, als reinigendes Stahlgewitter.

Man errötete schier "in patriotischer Glut", schreibt Jean Echenoz in seinem bewundernswert genau jedes Wort setzenden Kurzroman "14" - was so entsteht, ist eine vielschichtige Vergegenwärtigung des Ersten Weltkrieges, die auch historisch Interessierten ans Herz zu legen ist. Echenoz entwirft sein Zeitbild, das Alltags- und Schlachtenpanorama in einem ist, an einer Hand voll unscheinbarer Existenzen: Neben dem gutherzigen Anthime und seinem selbstgefälligen Bruder Charles, der Vizedirektor der Fabrik ist, in der Anthime vor ihm zu buckeln hat, sehen wir den Sattler Arcenel, den Abdecker Bossis und den Metzgergesellen Padioleau in den Zug steigen, der sie in die Ardennen bringt. Ihr schmächtiger Hauptmann, "dessen Morphologie wenig Aufschluss darüber gab, wie und woher bei ihm die Berufung zum Kriegerischen hatte entstehen und sich entwickeln können", eröffnete ihnen, dass nicht Kugeln töten, sondern die Unsauberkeit: "Sie heißt es, in erster Linie zu bekämpfen."

Anfangs lässt sich der Krieg beschaulich an, die durstige Truppe wird in Dörfern noch freudig empfangen und ein gutes Geschäft mit ihr gemacht. Die nächsten sind dann bereits geplündert und verwaist. Eines Abends erfolgt der Befehl, die Essgeschirre zu schwärzen, "damit sie nicht so auffällig funkelten". Es wird ernst: die Kälte, der Regen, der Feind in einem Hinterhalt, Marschieren bis zur Besinnungslosigkeit - der Tornister samt Aufbau gut 35 Kilo schwer. Um "ein Maximum von den einen gegenüber zu töten und ein Minimum an Terrain zu gewinnen", lässt man sich im Kugelhagel perforieren, aufspießen oder von Granaten in Fetzen reißen. Wer in dem Inferno überlebt, verliert die Kontrolle über sich und stinkt "nach Pisse und Scheiße und Schweiß, nach Schmutz und Erbrochenem".

"All das ist schon tausendfach beschrieben worden", fällt sich Echenoz, der zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurde, selbst ins Wort. Aber doch nicht so. In diesem beständigen Nebeneinander von Vogelperspektive und Zoom. In dieser Melange aus Detailversessenheit, gefrierpunktartiger Sachlichkeit und Spurenelementen von Hohn und Anmut, von Hinrich Schmidt-Henkel einmal mehr glänzend übersetzt. Eine "stumpfsinnige" Oper nennt Echenoz den Krieg: viel Drama, viel Lärm, viel Langeweile. Mehr als drei Lesestunden dauert seine Rekonstruktion dieser Oper nicht, die auf Schärfe setzt statt des sonst so weit verbreiteten Betroffenheitsjargons.

Anthime kommt durch. Dank eines Granatsplitters, der ihm den rechten Arm sauber von der Schulter abtrennt. Die Kameraden beneiden ihn um "seine gute Wunde", die es ihm erlaubt, sich als Invalider ins Zivilleben davonzumachen und zuhause in der Vendée Blanche die Hand zu reichen - der Geliebten seines gefallenen Bruders. Mit Anthime wird er ein Kind haben, das sie dann Charles nennen. Seine Kameraden ziehen, von ihrer Intendantur nun großzügig mit billigem Wein versorgt, um noch das letzte Quäntchen Moral zu betäuben, der Verrohung weiter entgegen - nach Verdun.

Jean Echenoz: 14. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Hanser Berlin, 125 Seiten, 14,90 Euro.

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