Die Armut ist ein Wachstumsmarkt

In der Entwicklungshilfe wurde in den 90ern ein Wundermittel zur Armutsbekämpfung entdeckt, das bis heute viele Geldgeber gefunden hat: Mikrokredite. Der aus Bangladesh stammende Ökonom und Gründer der Grameen Bank Muhammad Yunus, der Mikrokredite zwar nicht erfand, aber die Idee der Kleinkreditvergabe an Arme umfassend erprobte und ein „Menschenrecht auf Kredit“ propagierte, erhielt 2006 den Friedensnobelpreis.

Seine Bank gab Mittellosen, die als kreditunwürdig galten, ein kleines Startkapital (ein paar tausend Euro), um sich eine Existenz aufzubauen. Gebt den Deklassierten dieser Welt Geld in die Hand, dann ziehen sie sich selbst aus dem Sumpf, verhieß das. Sollte das so einfach sein?

Nun entzaubert ein Buch die viel beklatschten Mikrokredit-Lösungen, die "Hilfe zur Selbsthilfe" zu leisten schienen, weitgehend als Märchen im Dienste des Neoliberalismus . Es enthält Beiträge, die Wissenschaftler, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Journalisten im Vorjahr anlässlich der ersten kritischen Fachtagung zum Thema Mikrokredite im deutschsprachigen Raum verfassten. Der Befund ist nahezu einhellig: Mikrokredite sind kein Königsweg der internationalen Armutsbekämpfung , sondern ein Geschäftsmodell, das nur selten den Armen, meistens hingegen der Finanzindustrie und ihren Investoren nutzt. Es sei deshalb an der Zeit, der Mikrofinanz "jede weitere staatliche Unterstützung zu entsagen und die frei werdenden Ressourcen in die Suche nach neuen, besseren Mitteln der Armutsbekämpfung zu leiten", schreiben die Herausgeber des Buches, Gerhard Klas und Philip Mader. Die hehre Idee habe sich vielfach ins Gegenteil verkehrt. Befürworter des Modells führen als Erfolgsnachweis zwar heran, dass die Rückzahlungsquote bei 95 Prozent liegt. Doch der Schein trügt: Klas/Mader weisen nach, dass die hohen Zinssätze in aller Regel eine Verschuldungsspirale in Gang setzen. Kurze Kreditlaufzeiten nötigen demnach Schuldner, sich bei lokalen Kreditgebern erneut Geld zu leihen, um den engmaschigen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Ein Teufelskreislauf.

Im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh etwa, der "zum weltweiten Musterland der Kredit-,Penetration' avancierte" (so die Soziologin Christa Wichterich), sind heute 82 Prozent der bäuerlichen Haushalte hoch verschuldet (Landesschnitt: 49). Ähnlich ist es in Bangladesch. Woran aber scheitert die Idee vom Armen als Kleinstunternehmer? An zu starker Geschäftskonkurrenz und/oder an zu niedrigen Einkünften, so die Autoren. Weder generieren Mikrounternehmerinnen - überwiegend gewährt man sie Frauen - neue Jobs noch eine nennenswerte Wertschöpfung, weil Kredite nicht gezielt in investive Tätigkeiten (etwa produzierendes Gewerbe) gelenkt werden.

Folgt man den Autoren, erklärt sich die Mikrokredit-Misere nicht zuletzt aus dem Geschäftsgebaren privater Mikrofinanzinstitutionen (MFI), die bei ausländischen Banken Kredite aufnehmen und dann in doppelter oder dreifacher Höhe an Bedürftige weiterreichen. MFI-Agenten drängten ihnen überhöhte Darlehen auf, um die Zinsen dann im Wochentakt rigide einzutreiben.

Längst treibt nicht mehr ihr soziales Ethos die Geldgeber an, sondern ihr Profitinteresse - diese Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Nicht die Förderung des Gemeinwesens steht im Fokus, sondern die Strategie, "bislang vom Markt vernachlässigte Bevölkerungsanteile in unternehmerische Wertschöpfungsketten einzubeziehen", bilanziert Thomas Gebauer. 2011 wurden weltweit Mikrokredite in Höhe von 90 Milliarden Dollar an 200 Millionen Frauen und Männer vergeben, 30-mal (!) so viel wie zehn Jahre zuvor. Der Mikrofinanzsektor ist mithin ein enormer Wachstumsmarkt. Slumbewohner sind für Investoren interessant geworden, weil das jahrelang erprobte Mikrokredit-Gewinnmodell sichere Renditen verspricht. Das Fazit des Buches fällt zynisch aus: Auf Suche nach neuen Geschäftsfeldern hat der Neoliberalismus die Armen als Wachstumsmarkt entdeckt.

Gerhard Klas/Philip Mader: Rendite machen und Gutes tun? Mikrokredite und die Folgen neoliberaler Entwicklungspolitik. Campus, 217 Seiten, 19,90 Euro.

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