Deutsche Wirtschaft im Abschwung

Größer könnte der Kontrast kaum sein: In ihrem Frühjahrsgutachten sahen die führenden Wirtschaftsforscher Deutschland noch mitten im Aufschwung. Nur sechs Monate später ist nun vom Abschwung die Rede. Nachzulesen in ihrer gestern veröffentlichten Herbstprognose. Die wichtigsten Daten und Hintergründe erläutert SZ-Korrespondent Stefan Vetter im Überblick:



Wie ist die Lage?

Sehr ernüchternd. Für das laufende Jahr schraubten die Experten das erwartete Plus beim Bruttoinlandsprodukt deutlich um 0,6 Prozentpunkte gegenüber ihrer Einschätzung vom Frühjahr zurück. Demnach soll die Wirtschaft nur noch um 1,3 Prozent wachsen. Für 2015 wird ein Plus von 1,2 Prozent angegeben.

Woraus resultiert die Eintrübung?

Die weltwirtschaftliche Produktion sei nur "mit einem unterwartet mäßigen Tempo" vorangekommen, heißt es in dem Gutachten. Insbesondere der Euro-Raum befinde sich nach wie vor in einer Schwächephase. Auch in den Schwellenländern sei die Entwicklung schleppender als ursprünglich angenommen. Internationale Krisen wie der russisch-ukrainische Konflikt und die Kämpfe in Syrien und dem Irak hätten die ökonomischen Aussichten zusätzlich getrübt. Dies alles reduziere die deutschen Exporterwartungen, schreiben die Wirtschaftsforscher.

Gibt es auch hausgemachte Fehleinschätzungen?

Ja. Die Ökonomen räumen selbst ein, "die binnenwirtschaftliche Dynamik zu optimistisch" gesehen zu haben. "Möglicherweise verführten auch der anhaltend stabile Arbeitsmarkt und die gute Lage der Staatsfinanzen zu einer positiven Einschätzung der Konjunktur". Dabei sei die gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung schon seit 2012 mit einer kurzen Unterbrechung im Sinkflug. "Die deutsche Wirtschaft befindet sich mithin in einem - wenn auch nicht allzu ausgeprägten - Abschwung", resümieren die Experten . Wichtigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik sei es daher, "jetzt die Wachstumskräfte zu stärken".

Was halten die Experten vom Regierungskurs?

Schon in ihrem Frühjahrsgutachten hatten die Ökonomen "Gegenwind" durch die Wirtschaftspolitik der großen Koalition zu Lasten der Konjunktur ausgemacht. Nun wird diese Kritik noch verschärft. Maßnahmen wie Mindestlohn, Mütterrente und Rente 63 seien "wachstumshemmend". Auch nutze die Regierung ihren "finanziellen Spielraum zu wenig für investive Zwecke". All dies wirke sich "negativ auf die private Investitionsneigung aus". Zwar begrüßen die Forscher "im Grundsatz" die Sparpolitik der Regierung. Was deren Ziel einer "schwarzen Null" anbetrifft, also eines Bundeshaushalts im kommenden Jahr ohne neue Schulden, so gingen die Experten dazu aber auf Distanz. Das sei ein "Prestigeprojekt", das "aus ökonomischer Sicht nicht angebracht" sei, meinte Ferdinand Fichtner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das die Expertise gemeinsam mit vier weiteren Forschungseinrichtungen erstellt hat.

Was empfehlen die Forscher?

Zur Ankurbelung der Konjunktur können begrenzt neue Schulden aufgenommen werden, ohne die Regeln der Schuldenbremse zu verletzen. Außerdem gebe es gemessen an allen öffentlichen Haushalten Überschüsse von sieben Milliarden Euro in diesem sowie drei Milliarden Euro im nächsten Jahr, die man ebenfalls zur Verfügung habe. Der Spielraum soll nicht für teure Konjunkturprogramme genutzt werden, sondern für die "Senkung der Abgabenbelastung". Sprich, den Abbau der "kalten Progression" oder eine Glättung des Steuertarifs.

Meinung:

Die Psychologie der Null

Von SZ-KorrespondentStefan Vetter

Die führenden Konjunkturforscher stehen nicht im Verdacht, einer lockeren Ausgabenpolitik das Wort zu reden. Ganz im Gegenteil. Über viele Jahre hinweg zog sich die Mahnung zur Haushaltskonsolidierung wie ein roter Faden durch ihre Gutachten. Umso bemerkenswerter, dass ihre neueste Expertise nun Zweifel am ökonomischen Sinn einer "schwarzen Null" äußert, wie sie die Bundesregierung für den Etat 2015 plant. Die Hiobsbotschaften der letzten Wochen, angefangen vom stetig sinkenden Ifo-Stimmungsbarometer über wegbrechende Auftragseingänge bis hin zum Rückgang bei den Exporten sorgten für einen radikalen Denkumschwung. Dabei hat die "schwarze Null", also ein Haushalt ohne neue Kredite, auch eine psychologische Funktion. Gäbe die Regierung das Vorhaben auf, wäre viel Vertrauen zerstört und der Schuldenmacherei erneut Tür und Tor geöffnet. In Deutschland, aber auch in anderen europäischen Staaten.

Zum Thema:

HintergrundErnüchterung für Deutschlands Exporteure: Nach dem Rekordmonat Juli brachen im August die Ausfuhren gegenüber dem Vormonat kalender-und saisonbereinigt um 5,8 Prozent auf 92,6 Milliarden Euro ein, wie das Statistische Bundesamt gestern mitteilte. Das ist der stärkste Rückgang seit Januar 2009. Die Europäische Zentralbank (EZB) sieht immense Abwärtsrisiken für die Konjunktur im Euro-Gebiet, heißt es im gestern veröffentlichten Monatsbericht. Grund sind die weltweiten Krisenherde und zu geringe Fortschritte bei den Strukturreformen in Ländern der Euro-Zone. dpa

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