Der Zwilling, der im Kopf sitzt

In einer kurzen Vorbemerkung zu ihrem Prosadebüt "Flamingos" schreibt die bis dato nur als Lyrikerin in Erscheinung getretene Ulrike Almut Sandig über die titelgebenden Tiere dieses bemerkenswerten Erzählbandes: "Sie erwecken den Anschein, als wären sie gar nicht da. Sie sind aber da." So ergeht es einem auch mit den Figuren dieses Buches

In einer kurzen Vorbemerkung zu ihrem Prosadebüt "Flamingos" schreibt die bis dato nur als Lyrikerin in Erscheinung getretene Ulrike Almut Sandig über die titelgebenden Tiere dieses bemerkenswerten Erzählbandes: "Sie erwecken den Anschein, als wären sie gar nicht da. Sie sind aber da." So ergeht es einem auch mit den Figuren dieses Buches. Alle sind sie nicht recht zu greifen, weil das Surreale für sie ebenso viel Gültigkeit besitzt wie die handfesten Realitäten, an denen andere sich kramphaft festhalten, als wäre es ein Geländer, das einen vor jedem Abgrund sichern soll. "Ich erzähle ihnen, wer ich nie gewesen bin", heißt es in der einleitenden kurzen Erzählung "Über mich". Das ist angesichts Sandigs Erzählkonzeption, das Mögliche als beständigen Daseinsschatten zu begreifen, durchaus programmatisch zu verstehen.

Fast alle dieser sehr gekonnt die Realitätsebenen verschwimmen lassenden Erzählungen vermeiden es, den meist nur satz- und abschnittweise gehörig angezogenen Phantasiebogen zu überspannen. Gerade dies zeichnet sie aus. Sandig weiß nicht nur mit ihren Einfällen zu haushalten, sie fügt sie auch bruchlos in ihren Erzählfluss ein. In "Hush little baby", einer der herausragenden Geschichten, mündet diese Engführung von Vorstellung und Verstellung in die Ununterscheidbarkeit von Trugbildern und Beweisbarkeiten. Sie handelt von Kai Arno, der als Einzelkind zur Welt kommt, obschon man bis zur Entbindung von Zwillingen ausging. Außer zwei unterschiedlichen Augenfarben gibt es anfangs keinen Hinweis darauf, dass sein Bruder in ihm fortlebt. Irgendwann aber wird er mit ihm zu reden anfangen und eine Körperhälfte langsamer als die andere wachsen. Am Ende wird er von einer Brücke stürzen und nur sein Bruder ertrinken. Sandigs Prosa, die von Ferne an die Erzählungen von Terézia Mora oder an die Phantasmagorien in den Romanen Sibylle Lewitscharoffs erinnert, wählt immer wieder das Verfahren, (vordergründig) abstrus anmutende Denkfiguren solange nach außen zu stülpen, bis sie der Realität zum Verwechseln ähnlich scheinen.

In "Kuba" geht es um eine Frau ("die Seeligern" genannt) aus einem ostdeutschen Braunkohlegebiet, die irgendwann in einen See steigt, in dem auch ihre Vergangenheit gewissermaßen geflutet wurde. Sie schwimmt ihrem Verlobten entgegen, einem kubanischen Wanderabreiter, mit dem sie sich vor einer halben Ewigkeit - als 16-Jährige - verbunden hatte. Die einen - wie "die Seeligern" - erinnern bei Sandig nichts, außer was sie gefühlt haben; die anderen - wie der Ich-Erzähler in "Vatertod" - erinnern sich an alles, "nur nicht an das, was man dabei gefühlt hat." Immer aber besitzt, das ist der rote Faden der Geschichten, das Innenleben ungleich mehr Gewalt über einen als die Außenwelt. Weshalb die kleine Schwester Irinas in "Salzwasser" nicht sehen will, warum Irina sie und den Vater verlassen hat. Weshalb Dorothea Kupic in "Damespiel" eines Tages ein drittes Auge aus der Stirn wächst, mit dem sie jeden zeitlichen und räumlichen Horizont überwindet und "die Welt mit anderen Augen sah".

Für ihre Gedichte hat Sandig, die 1979 in Großenhain (Sachsen) geboren wurde, wichtige Lyrikpreise erhalten (den Meran- und den Leonce-und-Lena-Preis). Mit "Flamingos" zeigt sie nun, dass von ihr auch als Prosaautorin noch viel zu erwarten ist. In diesem Jahr hat sie ihre Ausbildung am Leipziger Literaturinstitut abgeschlossen. Mancher Krampf hat von dort Eingang in die Literatur gefunden. Ulrike Almut Sandig bleibt frei davon.

Ulrike Almut Sandig: Flamingos. Geschichten. Schöffling & Co, 176 S., 17,90 €

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