Der Vorleser der Nation

Saarbrücken. Reich-Ranicki ist ein Kritiker-General, der mit dem ihm eigenen apodiktischen Grundton befindet: "Es gibt Literatur ohne Kritik, aber keine Kritik ohne Literatur

 Reich-Ranicki mit Geburtstagsgratulant Hellmuth Karasek, mit dem er im "Literarischen Quartett" rühmte und verriss. Foto: dpa

Reich-Ranicki mit Geburtstagsgratulant Hellmuth Karasek, mit dem er im "Literarischen Quartett" rühmte und verriss. Foto: dpa

Saarbrücken. Reich-Ranicki ist ein Kritiker-General, der mit dem ihm eigenen apodiktischen Grundton befindet: "Es gibt Literatur ohne Kritik, aber keine Kritik ohne Literatur." Und natürlich ist er ein vorzüglicher Kritiker-Darsteller, der über ein hohes Maß schauspielerischer Qualität verfügt, dessen Urteile eindeutig sind, oft aber auch die Grenze zwischen Verriss und einer auf den Autor zielenden Kränkung überschreiten wie im Fall von Günter Grass' "Ein weites Feld".

Seine Autobiografie "Mein Leben", erschienen im Herbst 1999, war ein Bestseller, der viele seiner deutschen Leser ins Mark traf. Es ist der Bericht eines jüdischen Intellektuellen des Jahrgangs 1920, geboren in Wloclawek, aufgewachsen in Berlin, 1938 nach Polen ausgewiesen. Ein junger Jude aus dem Warschauer Ghetto, den ein polnisches Ehepaar vor den Deutschen versteckt. Einer, dessen Eltern in den Krematorien von Treblinka verschwanden. Einer, der mit seiner jungen Frau, der etwa gleichaltrigen Teofila, im Angesicht der schussbereiten SS-Posten aus der Todes-Kolonne entfliehen konnte. Nach Kriegsende trat er der polnischen KP bei, er glaubte damals den kommunistischen Verheißungen, diente dem Auslandsgeheimdienst als "Hauptmann" und brachte es in London bis zur Leitung des polnischen Generalkonsulats. Ob er darüber auch zum Denunzianten wurde, blieb offen. Es ist dies eine Vita, die bitter erkämpft worden war, über die sich Reich-Ranicki nicht öffentlich verbreitet hat. Dass man ihn wegen seiner Geheimdiensttätigkeit später bezichtigte, dem einen oder anderen Exilpolen in England ernsthaft geschadet zu haben - er hat auch auf diese Anwürfe nicht reagiert. Aber es waren Attacken, die Wunden hinterließen, engste Freundschaften zerstörten. Reich-Ranicki, der Herr der Bücher, "der Lauteste" unter den Buchbewertern, der "Vorleser der Nation", wie ihn Friedrich Luft tituliert hat.

Als er nach 1958 in die Bundesrepublik kam, hat er ob seiner Ghetto-Erfahrung ein Gefühl des Fremdseins nie überwinden können, auch nicht in den verschiedenen Zeitungshäusern, denen er seine Feder lieh. Reich-Ranicki, dessen polternd-grimassierende Suada im TV beim "Literarischen Quartett" einen beträchtlichen Unterhaltungswert garantierte, weiß um den Gehalt jenes berühmten Friedrich Sieburg-Wortes: "Wer nicht unter Literaten gelebt hat, der kann nicht wissen, was Hass ist." Vermutlich ist ihm selbst eine gewisse Boshaftigkeit nicht fremd, auch er kann hassen, aber Reich-Ranicki verfügt auch über leisere Töne, er kann lieben, liebt vor allem die Literatur. Martin Walser soll über ihn gesagt haben: "Er liebt wohl die Literatur, aber leider liebt sie ihn nicht zurück." Das trifft es. wos

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