Der unendliche Prozess um den Kafka-Erbschein

Prag. Kafkas Leben - so wissen wir es aus seinen Briefen - war von Erkenntnissen geprägt, die nicht gewonnen, sondern vom Schicksal erzwungen waren: Kafka kann seinem Büro nicht entfliehen, er kann nicht in den Krieg ziehen, es ist ihm verwehrt, als Schriftsteller zu leben - und unerfüllbar bleibt auch sein Wunsch, eine eigene Familie zu gründen

 Als die Tuberkulose noch fern war: Kafka in frühen Jahren. Foto: SZ

Als die Tuberkulose noch fern war: Kafka in frühen Jahren. Foto: SZ

Prag. Kafkas Leben - so wissen wir es aus seinen Briefen - war von Erkenntnissen geprägt, die nicht gewonnen, sondern vom Schicksal erzwungen waren: Kafka kann seinem Büro nicht entfliehen, er kann nicht in den Krieg ziehen, es ist ihm verwehrt, als Schriftsteller zu leben - und unerfüllbar bleibt auch sein Wunsch, eine eigene Familie zu gründen. Schließlich erweist sich für ihn auch das dauerhafte Glück mit einer Frau als unmöglich. Also bleibt die Unheilbarkeit seiner Tuberkulose, die zum Ende führt. Man könnte meinen, dass all diese schmerzlichen Erfahrungen Trübsinn zum Wesensmerkmal von Leben und Werk gemacht hätte. Aber diese Interpretation trifft nicht zu.

Wir haben uns Franz Kafka als einen auch lachenden Menschen vorzustellen. Er lacht über die Nachricht, dass Einsteins Relativitätstheorie die Therapie der Tuberkulose möglich gemacht habe. Manchmal, so berichtet er, habe er einen ganzen Nachmittag mit Lachen zugebracht. Mitunter musste er das Vorlesen seiner Geschichten vor lauter Lachen unterbrechen. Und auch in seinem Werk wird mehrere hundert Mal gelacht, am lautesten in der Gerichtsszene des Romans "Der Prozeß". Da geht das Gelächter des Publikums allerdings am Ende in Hustenanfälle über.

Zu welchen Heiterkeitsausbrüchen wäre es wohl bei Kafka gekommen, wenn er den Endlosstreit über seine Manuskripte aus dem Nachlass erlebt hätte. Dabei geht es eigentlich um den Nachlass seines Freundes Max Brod, indem sich eine Reihe von Briefen, Manuskripten und Zeichnungen Kafkas befanden. Zum Glück hatte sich Brod nicht an die Verfügung seines Freundes gehalten, nach dessen Tod den schriftlichen Nachlass, darunter auch die drei Romane, "restlos und ungelesen verbrennen" zu lassen. Bereits Publiziertes - so Kafkas Wille - sollte zumindest nicht neu aufgelegt werden. Brod hat dieses Testament ignoriert, seitdem interessiert sich die literarische Öffentlichkeit für alles, was mit dieser deutsch-jüdischen Schriftstellerexistenz in Prag zusammenhängt. Dass man eines Tages sogar seine in der Personalakte gesammelten Krankmeldungen ausstellen würde, hätte sich der von der Nachwelt zur Ikone der Moderne erhobene Dichter selbst in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können. Brod hatte die Manuskripte Kafkas etliche Jahre vor seinem Tod seiner langjährigen Mitarbeiterin Ester Hoffe geschenkt und dies im April 1952 nochmals schriftlich bestätigt. Ester Hoffe wiederum schenkte die Kafka-Handschriften vor ihrem Tod ihren beiden Töchtern Ewa und Ruth Hoffe. Die beiden inzwischen auch schon älteren Damen streiten nun mit der Israelischen Nationalbibliothek um die Verfügungsgewalt für die Kafka-Texte.

Türsteher Familienrichter

Die Israelis berufen sich dabei auf Brods Testament und den darin angeblich geäußerten Willen, seinen Kafka-Besitz in Israel zu belassen. Doch im Testament heißt es über die Kafka-Texte eindeutig: "Auch dieses Teil meines Nachlasses soll an Frau Ilse Ester Hoffe übergehen." Dennoch sagen die Israelis: "Wir haben nicht vor, kulturelle Güter aufzugeben, die juristisch der Nationalbibliothek und damit dem israelischen und jüdischen Volk gehören."

Zwar erklärt die Bibliothek, sie habe nicht die Absicht, "den Nachlass von Max Brod zu nationalisieren". Doch zugleich veranlasste sie, dass mit Vollmachten des Familiengerichts in Tel Aviv ausgestattete Juristen und Wissenschaftler bei der UBS-Bank in Zürich mehrere Schließfächer der Hoffe-Schwestern öffneten. Und eben dieses Familiengericht verweigert seit zwei Jahren den Schwestern den Erbschein, mit dem sie Zugriff auf ihr Eigentum erhielten. Eine bizarre, kafkaeske Situation.

Ester Hoffe, die Mutter der beiden Damen, hatte wiederholt einzelne Kafka-Manuskripte aus ihrem Privatbesitz verkauft. Zuletzt wurde das Manuskript zum "Prozeß" zu einem Rekordpreis von 3,5 Millionen Mark bei Sotheby´s versteigert. Heute befindet es sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Nahezu alles an Kafkas Werk, auch das Vollendete, erscheint angesichts dieses Streits, dessen Ende nicht absehbar ist, unvollendet. Denn an all diesen Texten klebt noch - so wusste es Kafka - "das menschliche Schwänzlein". Und es mag daher an der Zeit sein, an das Diktum des Geistlichen im "Prozeß" zu erinnern, an die Worte, mit denen er die Kommentare zum Gleichnis vom Türsteher vor dem Gesetz kritisiert: "Die Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber."

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