Der Tag, an dem die große Welle kam

Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère hat ein Buch über den Tod geschrieben – über den tausendfachen, den eine Naturkatastrophe brachte, und den einsamen, der einer Krankheit folgte. Und doch ist es vor allem ein Buch über das Leben – und die Frage: Wieviel Liebe ist möglich?

Im Jahr 2000 erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Amok" ein unglaubliches Buch über den realen Fall eines Mannes, der im französischen Jura Jahre zuvor seine Familie umgebracht hatte: seine Frau, seine Kinder, seine Eltern. Er tat es, nachdem ruchbar geworden war, dass er sich 18 Jahre lang als Arzt im Dienst der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgegeben hatte, während er in Wahrheit stellungslos lediglich seine Zeit tot schlug. Wie es dem Mann gelingen konnte, sie so lange durchzuhalten, zeichnete der französische Autor Emmanuel Carrère in "Amok" nach.

Nun erscheint mit "Alles ist wahr" ein weiteres exzellentes Buch von ihm, das offenbart, wie der 1957 geborene französische Autor und Filmemacher (sein Spielfilm "Schnurrbart" brachte es 2005 bis nach Cannes) sein Verfahren einer das eigene Ich einbauenden Dokumentarliteratur mittlerweile zur Perfektion getrieben hat. In "Amok" erinnerte es nicht von ungefähr an Truman Capotes in dessen Kriminalrecherche "Kaltblütig" zur absoluten Meisterschaft gebrachtes Prinzip der "nonfiction novel". Carrères neues Buch, in dem er ähnlich wie zuvor in seiner Großvater-Spurensuche ("Ein russischer Roman") eigene Empfindungen beständig in das Erzählte diffundieren lässt, ist von einer Aufrichtigkeit und Tiefe, wie man sie sich ausgeprägter kaum wünschen kann. Es gelingt ihm, die inneren Beweggründe des Lebens ans Licht zu bringen.

Gegen Ende von "Alles ist wahr" fällt der Satz, dass diese nonfiction novel zu schreiben ihm quasi aufgetragen worden sei. Nicht, weil Carrère sich dem nicht hätte entziehen können, was er miterlebt hatte: den Tod zweier Menschen, die beide Juliette hießen. Die eine starb 2004 mit vier Jahren bei einem Tsunami in Sri Lanka, die andere - die Schwester von Carrères Lebensgefährtin Helène - drei Jahre später mit 33 Jahren an Krebs, sie hinterließ drei kleine Kinder.

In Sri Lanka machte Carrère Urlaub, als plötzlich das Meer turmhoch übers Ufer trat und Tausende verschlang. Mit den Eltern der kleinen Juliette hatten er und Helène am Abend zuvor noch zusammengesessen. "Jetzt gehören wir zu zwei verschiedenen Sorten von Mensch." Seitenlang breitet er die Suche des Vaters nach Juliettes Leichnam im Chaos aus und koppelt sie in bemerkenswert offener Weise mit seiner eigenen Selbstbezogenheit im Zeichen seiner damaligen Beziehungskrise. Hin und her gerissen zwischen Empathie und Distanz zeigt Juliettes Tod ihm die Willkür des Schicksals: Die einen werden geschont, die anderen heimgesucht.

Was Carrère nicht mehr losließ und ihn zuletzt zu diesem Buch trieb, war der Satz eines Richters. Nach dem Tod von Helènes Schwester erzählte dieser Etienne Rigal ihrer Familie von beider Arbeit als Richter und beider gemeinsamen Krebs-Historie: Wie Juliette erkrankte auch Etienne schon als Jugendlicher und dann Jahre später erneut. Er beschreibt den Zustand nachts alleine im Krankenhaus - nachdem man eine womöglich tödliche Diagnose bekommen hat. Etienne rät Carrère, über die innere Dramaturgie einer solchen ersten Nacht nachzudenken. "Vielleicht ist das was für sie."

Bald entwickelt Carrère die Idee, die Freundschaft von Etienne und Juliette nachzuzeichnen. Ihre Dialoge imaginiert er so hautnah, dass selbst der überkritische Richter keine Einwände hat. Carrère überließ ihm, wie den anderen Beteiligten, vorab sein Manuskript und sicherte zu, jede Änderung mitzutragen.

Ihm gelingt das Kunststück, eine schlichte, nüchtere, glaubhafte Sprache für das zu finden, was Nacherzählung und Erfindung zugleich ist. Wo Authentizität es fordert, findet Carrère aber auch schonungslose Worte. So wenn er skizziert, wie die Vierjährige in Sri Lanka unter die Erde kommt: "Schließlich wurde die Kremation auf die Schnelle hinter sich gebracht, als eine dreckige Angelegenheit, zu der man niemanden einlud und nach der nichts zu tun blieb, als sich zu betrinken und sich davonzumachen."

Dass in diese bewegende, 250-seitige Verlustanzeige psychoanalytische Deutungsmodelle von Krebserkrankungen und Exkurse über die Machenschaften von Kreditbanken, die ihre Schuldner gezielt strangulieren, eingebaut werden (ihnen das Handwerk zu legen, ist des Richters Berufung), schmälert das Buch in keiner Weise. Wieviel Liebe ist möglich? Eigentlich ist das Carrères roter Faden. Er kommt der Antwort näher in den drei Jahren der Arbeit am Buch. Was er im Rückblick auf die Zeit in Sri Lanka seine "Liebesunfähigkeit" nennt, überwindet er nach und nach, indem er im Zusammenleben Verbindendes statt Trennendes sucht.

Emmanuel Carrère: Alles ist wahr. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, 248 Seiten, 19,90 Euro.

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