Der Präsident pokert hoch

Demokratisch oder autoritär, Westen oder Osten: Gegensatz-Paare können helfen, eine komplizierte Welt besser zu ordnen. Nicht so die Ukraine – sie ist ein Land der krassen Widersprüche, und klassische Denkmuster helfen kaum, die aktuelle Situation in Europas zweitgrößtem Flächenstaat zu verstehen.

Beispiel Viktor Janukowitsch: Im Westen wird der Präsident gern als pro-russisch bezeichnet, weil der Großteil seiner Wähler aus dem überwiegend russischsprachigen Ostteil der Ukraine stammt. Doch beeilt hat sich Janukowitsch wahrlich nicht, Wladimir Putins dringlichem Wunsch nach Beitritt der Ukraine zur Zollunion mit Russland, Weißrussland und Kasachstan nachzukommen. Aus gutem Grund: Die ukrainischen Oligarchen, die Janukowitsch stützen, haben kein Interesse an einem allzu großen russischen Einfluss auf ihre Geschäfte.

Janukowitsch versucht, Europa und Russland gegeneinander auszuspielen. Damit will er beiden Seiten maximale Zugeständnisse entlocken und gleichzeitig seine innenpolitischen Gegner in Schach halten. Allen voran die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die im Westen hohe Sympathie genießt - obwohl sie hervorragende Geschäftsbeziehungen nach Moskau unterhielt. Die Frage ist, ob Europa das Spiel mitspielt. Denn die Massendemonstrationen vom Wochenende zeigen, dass sich alle Seiten verkalkuliert haben könnten. Europa zuallererst, weil in Brüssel wohl kaum jemand ernsthaft damit gerechnet hatte, dass Kiew das Assoziierungs-Abkommen mit der EU zugunsten einer Partnerschaft mit Russland ausschlagen könnte. Die russische Seite wiederum ist sich zwar ihrer handfesten wirtschaftlichen Argumente wohl bewusst. Doch auch Putin dürfte vom Ausmaß der Protest-Stimmung in Kiew überrascht sein. Janukowitsch kommen die Demonstrationen bei seinen Verhandlungen mit EU und Russland zunächst nicht ungelegen; ihre Dynamik allerdings könnte ihn am Ende selbst hinwegfegen.

Berlin und Moskau haben bereits bewiesen, dass sie sich glänzend verständigen können, wenn es um gemeinsame Interessen unter Umgehung der Ukraine geht: beim Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream. In ihren Erdgas-Geschäften machten sich Russland und Deutschland damit von den unberechenbaren Verhältnissen in Kiew unabhängig. Eine lebensfähige Ukraine dagegen kann man sich auf absehbare Zeit weder ohne Europa noch ohne Russland als Partner denken. Das Land, an dem Russland und Europa von beiden Seiten ziehen, könnte am Ende buchstäblich zerreißen. Das kann niemand wollen. Der wirtschaftlich am Boden liegenden Ukraine wäre wohl am besten geholfen, wenn Europa und Russland verbal abrüsten und sich zu Dreiergesprächen mit Kiew durchringen. Janukowitsch jedenfalls würde das sicher den Wind aus den Segeln nehmen.

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