Der Mensch ist ein Systemfehler

Der Mensch ist genetisch dazu programmiert, die Welt zu zerstören; und der Krebs ist die „menschlichste aller Krankheiten“, findet die Figur Bruno Wollmer. Jörg W. Gronius entwirft in seinem neuen Roman das Psychogramm eines großen Griesgrams.

 Jörg W. Gronius, der seit 2006 an der Saar lebt. Foto: Brunner

Jörg W. Gronius, der seit 2006 an der Saar lebt. Foto: Brunner

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Jörg W. Gronius lässt in "Last Call" einen bekannten deutschen Komödiendichter namens Bruno Wollmer zwei Jahre lang aus Südeuropa, wohin er sich ans Meer zurückgezogen hat, Briefe an einen Freund in Deutschland schreiben. Briefe, in denen er Mal um Mal über den Systemfehler Mensch lamentiert und den Freund Richard über sein Sinnen und Tun auf dem Laufenden hält. Danach verliert sich seine Spur. Am Ende erfahren wir lediglich, dass Bruno die Briefe nie abgeschickt hat. Da ihr Adressat sie jedoch aufgrund von Wollmers Popularität der Öffentlichkeit glaubte übergeben zu müssen, halten wir sie nun in Händen.

Gronius' fiktive Korrespondenz setzt zur Zeit des US-Banken-Crashs von 2008 ein und kommentiert fortan aus der Abgeschiedenheit des erfundenen italienischen Küstenortes Giopoli voller Häme die politischen Ablenkungs- und Lösungsversuche im Zuge einer Kapitalismus-Krise im Weltmaßstab. Nur: Weder gewinnt sein Briefeschreiber als Person Kontur noch formt dessen launiges Schwadronieren ein Zeitbild. Gronius Buch überzeugt am ehesten, wo seine Figur das große Ganze beiseite lässt und von sich redet. Von Begegnungen und Begehren.

Wollmer ist ein (nicht gänzlich uncharmanter) Misanthrop, dem kaum ein Klischee zu billig ist, um den Untergang der Menschheit herbeizusehnen. Sie ist für ihn nur ein wucherndes Tumorgewebe, das den Planeten notwendigerweise vernichtet. "Wir sind halt genetisch so programmiert." In Wollmers Logik ist Krebs (als Wachstum zum Tode) "die menschlichste aller Krankheiten". Hätte dieser Defätismus einen tieferen philosophischen Ertrag, ließe sich ihm etwas abgewinnen. Gronius' Pseudo-Roman aber führt selten auf einem Höhenkamm mit Weitsicht entlang. Wollmers Quintessenz reicht kaum weiter als dahin, den Tod als Geschenk zu betrachten und Mitleid als "rationalisierte Form der Verzweiflung". Dass Gronius mehr kann, hat er etwa im höchst originellen Kurzgeschichtenband "Im Reich der Fische" gezeigt. Mit ihm debütierte er nach einer Reihe früherer Werke 2009 im Saarland, wo der Autor seit 2006 lebt.

Sein Wollmer hat nicht nur von seinen (zuhause erfolgreichen, ihn weiter ernährenden) Komödien genug, sondern auch von Deutschland. Also sinnt er nun nach Jahren in der Ferne, "alleine, aber nicht isoliert", über sein Los und das der gesamten Spezies nach. Ein leeres Versprechen bleibt es, dass er dabei "immer weiter weg von den Meinungen und immer näher an die Wahrheiten" kommt. Obama oder Merkel, Abwrackprämie oder Schutzschild, Muslime oder Chinesen - übers Mäkeln kommt er selten hinaus.

In Wollmers Litaneien, gepaart mit eher skizzenhaft bleibenden Alltagsschilderungen des Lebens in der Fremde, gehen die Qualitäten des Buches leicht verloren. Im ersten Teil gelingt es Gronius, seine Figur als gebrochenen Charakter zu zeichnen: Dieser Bruno sieht sich bis heute als Versager, weil sein Vater ihn nie respektierte - und ihm umgekehrt in seiner proletarischen Beschränktheit selbst nie Vorbild war. Dicht geraten die Beschreibungen erzwungener Kurzreisen in die deutsche Kälte: Brunos Visiten bei dem moribunden Vater, dessen Beerdigung und danach die gelebte Leere mit der Mutter. Wollmers biografische Bruchstücke aus dem Lebensumfeld Südeuropa erreichen nie diese Prägnanz.

Seine Briefe, die die vermeintliche Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz umkreisen, sind auf doppelte Weise am eigenen Rand geschrieben. Am Rand des Kontinents und am Rand des Todes. Aus Deutschland erreichen ihn immer wieder finale Nachrichten: Freunde, die es erwischte oder die von eigener Hand gingen. Auch unter seinen italienischen Bekannten erledigt man das Sterben (und betrauert es hingebungsvoll). Was auch immer unser erstaunlich humorloser Komödiendichter mitteilt: Immerzu wirkt er wie ein Zaungast des eigenen Lebens. Selten blitzt, etwa in Beschreibungen seiner Naturgänge, Verletzlichkeit auf. Vorherrschend ist ein nivellierender Unterton, der sich wie ein Panzer um ihn gelegt hat.

Gronius macht es einem nicht leicht, in seinem Text jene Widerhaken zu finden, die verhindern, dass man mit diesem allzu schnell fertig ist. Aber es gibt sie. Sätze wie: "Gott will Mörder, Gott will Schuldige. Homo necans. Wo bliebe sonst seine Macht?" Weshalb man das Buch lesen sollte, wie man Briefe liest: Stück um Stück. Dann lässt sich davon absehen, wie sehr sie sich als Ganzes wiederholen.

Jörg W. Gronius: Last Call. Roman in Briefen. Conte Verlag, 288 Seiten, 19.90 Euro.

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