Der maßlose Melancholiker: Carlos Domínguez' neuer Roman

In seinem Roman „Der verlorene Freund“ spürt der Argentinier Carlos María Domínguez einem seltsamen Selbstmord nach. Ein kluges und unterhaltsames Buch.

Im Wartezimmer ihres Anwalts lernen sie sich kennen. Bald verbindet die beiden älteren Männer eine Freundschaft. Sie diskutieren über Claude Monet, hören Platten von Charlie Parker, spielen Schach. Über ihr Leben sprechen sie selten. Deswegen trifft es den einen um so unerwarteter, als sich sein Freund Waldemar Hansen ganz unvermittelt aus dem Fenster eines Mietshauses stürzt. Der Ich-Erzähler fängt an, den mysteriösen Ursachen des Selbstmordes nachzugehen, wertet den Computer des Toten aus. Er stößt auf ein Holzkreuz, von dem in Mails die Rede ist, macht sich auf den Weg in das Städtchen, wo Waldemar Hansen das Grabkreuz auf dem Friedhof gestohlen hat. Rätselhafte Ereignisse nehmen ihren Lauf. War es die Liebe zur Kunst, die ihn das Kreuz hat mitnehmen lassen? Wollte Hansen, der früher Notar war, es stehlen, nur um sich selbst etwas zu beweisen? Er, der den Großteil seines Lebens damit verbracht hat, anderen Leuten etwas zu beglaubigen, wo er doch eigentlich alles andere als vertrauenswürdig ist?

Immer mehr zieht die Geschichte den Leser in ihren Bann, die Carlos María Domínguez in "Der verlorene Freund" erzählt. Dominguez setzt die große Tradition der lateinamerikanischen Erzähler fort. Seine Texte sind klug und unterhaltsam. Auch das aktuelle Buch spielt in dem intellektuellen Milieu eines sich überlebenden Bürgertums. Es ist voll von reizvollen Reflexionen über die Kunst und das Leben, handelt von Leuten, die in eine Parallelwelt der Kunst und Literatur fliehen. Auch Waldemar scheitert an sich selbst, seiner Herkunft und an Ansprüchen. Er ist ein Melancholiker, und die neigen dazu, wie Samuel Johnson einmal schrieb, sich in Maßlosigkeit zu flüchten.

Hansen liebte die Kunst. "In ihr hat er eine intensive Welt erlebt. Doch diese Intensität verlangte er auch den übrigen Stunden ab, fand sie natürlich nicht, und so staute sich in ihm Verachtung an. Für die Werbung, die Politiker, das Fernsehen, die Kassiererinnen im Supermarkt, die Geschäftsführer und Besitzer." Waldemar findet für sich das Glück in Gemälden und Büchern - um den Preis, dass ihm alles andere minderwertig erscheint.

Carlos María Domínguez: Der verlorene Freund. Suhrkamp, 166 Seiten, 17,95 Euro.

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