New York/Los Angeles Der Hashtag, der die Welt ins Wanken brachte

New York/Los Angeles · Vergewaltigungen, Übergriffe, Sexismus: Für all das kursiert seit Oktober im Netz eine Art Überbegriff. Ein Zeichen und zwei Worte – #MeToo.

 Mit ihm will sich keiner mehr blicken lassen: Hollywood-Filmproduzent Harvey Weinstein. 

Mit ihm will sich keiner mehr blicken lassen: Hollywood-Filmproduzent Harvey Weinstein. 

Foto: dpa/Andrew Gombert

Am Silvesterabend wird sie den Knopf drücken. Der Countdown wird laufen. 60 Sekunden lang. Dann fällt der Ball vom Dach eines Wolkenkratzers am New Yorker Times Square. „Ball Drop“ heißt das Silvesterritual. In diesem Jahr löst es die Aktivistin Tarana Burke aus. Die Botschaft: Auch im Jahr 2018 soll der Kampf gegen sexuelle Gewalt weitergehen.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Burke an diesem Sonntag eine Minute vor Mitternacht in New York das neue Jahr einläuten soll. Rückblickend könnte man sie auch die „Ur-Auslöserin“ nennen. Denn es war sie, die im Jahr 2006 den Ausruf „Me Too“ ins Leben rief. Damit wollte die Aktivistin jungen, armen Afroamerikanerinnen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, eine Stimme geben.

Elf Jahre später, 4500 Kilometer weiter westlich: Die US-Schauspielerin Alyssa Milano greift „Me Too“ wieder auf. Diesmal als Hashtag auf Twitter. Als Aufruf an alle Frauen dieser Welt, die jemals sexuelle Übergriffe, Vergewaltigung oder irgendeine Art von Sexismus erfahren haben. Als Sammel-Anklage. Die sich zunächst gegen einen Hauptbeschuldigten aus Hollywood richtet. Sein Name bringt den Stein ins Rollen. Einen Stein, der zu einem Erdrutsch erwächst. Zum Jahres-Skandal 2017. Zur Akte Harvey Weinstein.

Der Name des Filmproduzenten wird innerhalb weniger Tage zum Sinnbild. Für sexuelle Übergriffe, über die die Traumfabrik jahrzehntelang schweigt. Für Machtmissbrauch. Für das Machtgefälle zwischen Mann und Frau.

Bevor Zehntausende innerhalb kürzester Zeit unter dem Hashtag #MeToo ihre Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch und Belästigung online verbreiten, schockiert am 5. Oktober ein Artikel der „New York Times“ die Welt. Mehrere US-Schauspielerinnen, darunter Hollywood-Größen wie Angelina Jolie und Ashley Judd, werfen Harvey Weinstein sexuelle Belästigung bis hin zu Vergewaltigung vor.

Nur wenige Tage später entlässt ihn sein Filmstudio „The Weinstein Company“, die Oscar-Academie schließt ihn aus. Mehrere Frauen ziehen vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen auf. Prominente wie Meryl Streep oder Hillary Clinton distanzieren sich von Weinstein. Knapp drei Monate später umfasst seine unrühmliche Liste bereits mindestens 100 Frauen. Darunter auch die Hollywood-Berühmtheit Salma Hayek.

Die 51-Jährige erzählt der „New York Times“, wie Weinstein sie bei den Dreh­arbeiten zu dem Film „Frida“ zu einer Sexszene mit einer Frau genötigt habe. „Harvey Weinstein war auch mein Monster“, bekennt Hayek. Er habe nichts mehr gehasst als das Wort „Nein“. Und wenn es fiel, dann habe er auch mal mit dem Tod gedroht: „Ich werde dich töten, denke nicht, dass ich das nicht kann.“

Und Weinstein selbst? Er gibt Fehlverhalten zu, weist die Vergewaltigungsvorwürfe jedoch kategorisch zurück. Doch egal wie die Sache vor Gericht ausgeht: Seine Karriere ist ruiniert. Er ist und bleibt der erste Stein. Auf den noch überraschend viele andere folgen sollen. Es ist der Domino-Effekt 2017. Ein Serien-Kollaps.

Die Gefallenen heißen unter anderem Dustin Hoffman und Kevin Spacey. Hoffman soll vor mehr als 30 Jahren eine Praktikantin bedrängt, der „House-of-Cards“-Darsteller Spacey zwei Schauspieler missbraucht haben. Künftig wird es keine Netflix-Serie mit Kevin Spacey mehr geben. Und der 80-jährige Dustin Hoffman erklärt öffentlich, er fühle sich „fürchterlich“.

Bald liegen auch die US-Fernsehmoderatoren Matt Lauer und Charlie Rose in den Domino-Trümmern. Vorwürfe gegen mehrere Mitglieder des US-Kongresses werden laut. Einen Tag vor Heiligabend melden die Nachrichtenagenturen, dass der Chef des Schönheitswettbewerbs „Miss America“ seinen Posten räumen muss. Sam Haskell soll sich in E-Mails abfällig über Bewerberinnen geäußert haben: Als „Stück Müll“ bezeichnete er eine frühere Gewinnerin. Ein Berg, der bis zum Himmel stinkt. Weit über Hollywood hinaus.

Fünfzehn Flugstunden weiter westlich: #MeToo erreicht das Straßburger EU-Parlament. Mehrere Abgeordnete geben an, auch Opfer sexueller Belästigung geworden zu sein. Doch unter die Ankläger mischen sich auch kritische Stimmen. So gibt die österreichische Liberale Angelika Mlinar zu bedenken: „Plötzlich sind alle schockiert und beklagen Verhaltensweisen, die schon immer existiert und das Leben vieler Frauen beeinträchtigt haben.“

 Am 5. Oktober zieht der Orkan „Xavier“ über Norddeutschland. Sieben Menschen kommen zu Tode.

Am 5. Oktober zieht der Orkan „Xavier“ über Norddeutschland. Sieben Menschen kommen zu Tode.

Foto: dpa/Julian Stratenschulte
 Anfang Oktober wüten in Kalifornien verheerende Waldbrände, es gibt über 40 Tote.

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Foto: dpa/Peter Thoshinsky
 Mehr als zehn Männer werfen ihm sexuelle Übergriffe vor: US-Schauspieler Kevin Spacey.

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Foto: dpa/Evan Agostini
 Oscars Salma Hayek Actress Salma Hayek arrives for the 75th Academy Awards in Hollywood, California, 23 March, 2003. Salma Hayek is nominated for Best Actress for her performance as Frida Kahlo in "Frida." This is the first nomination for the Mexican-born actress. Foto: John MABANGLO dpa (zu dpa 0347)

Oscars Salma Hayek Actress Salma Hayek arrives for the 75th Academy Awards in Hollywood, California, 23 March, 2003. Salma Hayek is nominated for Best Actress for her performance as Frida Kahlo in "Frida." This is the first nomination for the Mexican-born actress. Foto: John MABANGLO dpa (zu dpa 0347)

Foto: dpa/John Mabanglo

In Großbritannien kostet #MeToo führende Politiker das Amt: Anfang November tritt Theresa Mays Verteidigungsminister Michael Fallon zurück. Er soll einer Journalistin vor 15 Jahren die Hand aufs Knie gelegt haben. Wenige Wochen später verabschiedet sich ein weiterer Vertrauter Mays: Vize-Premier Damian Green.

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