Der Grandseigneur des Jazz

Berlin. Hans-Rosenthal-Platz in Berlin-Schöneberg. Hier steht das alte Rias-Gebäude, aus dem heute Deutschlandradio Kultur sendet. Der einstige Brückenort zwischen Ost und West ist der beste Ort, um sich mit Klarinettist Rolf Kühn zu treffen. Er gilt als Grandseigneur des deutschen Jazz: Zeitzeuge und auch in seinem achten Lebensjahrzehnt noch Innovator

 Rolf Kühn im Foyer des alten Rias-Gebäudes, in dem historische Geräte wie dieser Apparat ausgestellt sind. Foto: Christoph Jann

Rolf Kühn im Foyer des alten Rias-Gebäudes, in dem historische Geräte wie dieser Apparat ausgestellt sind. Foto: Christoph Jann

Berlin. Hans-Rosenthal-Platz in Berlin-Schöneberg. Hier steht das alte Rias-Gebäude, aus dem heute Deutschlandradio Kultur sendet. Der einstige Brückenort zwischen Ost und West ist der beste Ort, um sich mit Klarinettist Rolf Kühn zu treffen. Er gilt als Grandseigneur des deutschen Jazz: Zeitzeuge und auch in seinem achten Lebensjahrzehnt noch Innovator. Fast täglich kommt er hierher in seinen Probenraum. "Der Rias lügt, die Wahrheit siegt", steht im Foyer. Die Vergangenheit ist vergangen, Rolf Kühn lebt in der Gegenwart. Das hat er immer so gehalten. Wenn er in seinen gar nicht geschwätzingen Erzählungen das Einst wachruft, wie das in der deutschen Jazzszene kein Zweiter könnte, ist er konzentriert und kein bisschen auftrumpfend. Rolf Kühn ist ein eleganter und selbstbewusster Chronist von sechs Jahrzehnten Musikentwicklung. Mit Benny Goodman, Friedrich Gulda oder John Coltrane stand er auf der Bühne, in Deutschland leitete er Fernsehorchester und hatte traumhafte Kompositionsaufträge. Geboren 1929 in Köln, wuchs Rolf Kühn in Leipzig auf. Der Vater war Akrobat. Die Mutter war Jüdin, deswegen flog der Vater aus der Reichstheaterkammer. Sie erhielt den blauen Brief für die letzten Transporte nach Theresienstadt. Hilfe kam im letzten Moment, als die Amerikaner kamen. Eine Menge Clubs gab es plötzlich in Leipzig wegen der vielen Musiker in der Army. Und so entdeckte der Heranwachsende den Jazz. Mit 16 hatte Rolf Kühn sein erstes Engagement, bald hörte er seine erste Benny Goodman-Platte. "Ich habe sie in monatelanger Kleinarbeit Note für Note kopiert. Ich dachte, ich klinge genau wie Goodman, bin ins Studio gegangen und kam mit einer Platte nach Hause, die der größte Mist war. Das war der Moment der Wahrheit. Ich dachte, jetzt geht die Arbeit richtig los." Es häuften sich die Auftritte. Für drei Monate wurde er am Timmendorfer Strand engagiert. Es gab kein Zurück mehr in die gerade gegründete DDR. Sechs Jahre lang war Rolf Kühn erster Saxophonist beim Rias-Tanzorchester, doch er wollte mehr. Und so ging er nach New York. Die Auftrittsgenehmigung gab es erst nach einem halben Jahr. Ihr ging eine Anhörung vor zwölf Leuten voraus, barsch und unfreundlich: "Sind Sie Kommunist? Haben Sie Verbindungen hier?" Als das Prozedere bestanden war, kam Caterina Valente in die Stadt und engagierte ihn. Es folgte einem glücklichen Zufall der nächste. Mit den Birdland Stars of 57 ging er auf Tour. Chet Baker war dabei, doch nach einer Woche wurde der in Philadelphia im Opernhaus verhaftet. "Er war so stoned, man konnte kaum mit ihm reden. Die kamen vor dem Konzert, fünf oder sechs Muskelmänner in Zivil. Jeder von uns musste sich ausziehen und wurde auf Einstiche untersucht." Rolf Kühn wurde von Benny Goodman zur Probe eingeladen. "Er zeigte plötzlich auf mich. Du spielst mal das Klarinettensolo. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass er ein Lächeln auf den Lippen hatte. Dann bin ich geblieben für zwei Jahre." Oder die Geschichte mit Billie Holiday: "Wir wohnten zufällig im gleichen Haus, sie parterre, ich im dritten Stock. Als ich mal von einem Silvester-Gig zurückkam, hatte ich den Hausschlüssel vergessen. Ich wusste mir keinen anderen Rat, als bei ihr zu klingeln. Nie wieder in meinem Leben bin ich so beschimpft worden. Später hatten wir mehrere TV-Auftritte zusammen. Sie war um 19 Uhr schon völlig hinüber, heulte und sollte auftreten. Das kann man sich nicht vorstellen. Nervlich am Ende, aber wenn es zur Sache ging: Bang!" Hatten er selbst Erfahrungen mit Drogen? - "Nein, ich hab die grauenvollen Resultate gesehen." Aber warum packt man nach sechs Jahren die Klarinette wieder ein? - "Weil man sich irgendwann entscheiden muss. Will ich in dieser Riesenstadt einer von 30 000 Künstlern sein? Will ich immerfort acht Stunden im Bus sitzen und zwischen den Auftritten gigantische Dimensionen überwinden? Will ich das für immer?" Zurück im Berlin des Kalten Krieges, musste er bald unfreiwillig gehen. 1961 trat er während der Leipziger Messe auf, auch um seine Familie wiederzusehen. Nur stand inzwischen die Mauer. Alle westdeutschen Kollegen sagten ab. Er nicht. Nach der Rückkehr war er für beide Berliner Rundfunkhäuser gesperrt. So fuhr er nach Hamburg, ging zur Orchesterprobe und wurde engagiert. Drei Monate später übernahm er für sechs Jahre die Leitung des NDR-Fernsehorchesters. Den Höhepunkt seiner Karriere bahnte er wieder von Berlin aus an. Beim Jazzfest traten Max Roach, Dave Brubeck und Freddy Hubbard auf und als einzige deutsche Band Kühns Quartett mit seinem knapp 15 Jahre jüngeren Bruder Joachim am Klavier. Sie wurden von 8000 Leuten gefeiert. Ein Handschlag mit George Wein danach, sie waren für Newport engagiert. Dort hörte sie Bob Thiele, der legendäre Coltrane-Produzent. "Der fragte, ob wir für ihn aufnehmen wollten." Es entstand das Album "Impressions of New York". Und heute? Weil seine Geschichte von Neugier geprägt ist, arbeitet er mit einer Band, deren Mitglieder seine Enkel sein könnten und ist inzwischen auf zwei CDs nachzuhören. Spielwitz, Abenteuerlust und Fantasiereichtum ergeben spontane wie durchdachte Sessions, weil der Altmeister hier nicht den Stoff seines Lebens recycelt, sondern wieder zu Neuem aufbricht. "Es geht einfach nur weiter. Das ist das Einzige, was mich interessiert." Im Internet:www.rolf-kuehn.de

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