Der Graf von Monte Schizo

Saarbrücken. Bereits im Eröffnungssong gibt sich Dirk von Lowtzow mit sonorer Brummbärstimme unversöhnlich. In den folgenden drei Stücken lässt er nicht ab, verbeißt sich in Begriffen wie Terror, Folter, Henker, Hölle, Schicksalssymphonie, sieht Blut an seinen Händen, wittert Neid, Gier, Feigheit

Saarbrücken. Bereits im Eröffnungssong gibt sich Dirk von Lowtzow mit sonorer Brummbärstimme unversöhnlich. In den folgenden drei Stücken lässt er nicht ab, verbeißt sich in Begriffen wie Terror, Folter, Henker, Hölle, Schicksalssymphonie, sieht Blut an seinen Händen, wittert Neid, Gier, Feigheit. Hat der aus Prinzip sich zu weit Vorwagende dieses Mal das Reich der Finsternis inspiziert? Oder einfach nur zuviel Nachrichten konsumiert? Von Lowtzow, im Hauptberuf Sänger und Texter, lebt auch auf dem neunten Album "Schall und Wahn" der Hamburger Band Tocotronic seinen Hang zu Übersteigerung und Exzentrik aus. Der Titel stammt vom gleichnamigen Roman William Faulkners, der ihn 1929 auch nur von Shakespeares Macbeth gemopst hat; für Macbeth ist das Leben "eines Toren Fabel nur, voll Schall und Wahn, jedweden Sinnes bar". Faulkner zeigt am Beispiel der zerfallenden Familie Compson das Bröckeln von Menschlichkeit, von Moral und Anstand. Der hoffnungslose Ton dieses Untergangsszenarios hat von Lowtzow anscheinend zu einer düsterromantisch verfärbten Endzeitstimmung inspiriert, der er sich in den zwölf neuen Songs ausgelassen hingibt. "Mein Verlangen und ein flammendes Inferno grüßen dich auf das Allerherzlichste", heißt es im "Gesang des Tyrannen". Und ganz am Ende, als "Gift" im Spiel ist, hallen wie aus fernen Welten die Instrumente herüber und vereinen sich weihevoll in einer ekstatischen Klangorgie. Wie hier verliert das Quartett um von Lowtzow, Arne Zank, Jan Müller und Rick McPhail öfter die Kontrolle über seine offen gehaltene Rockmusik, die immer wieder minutenlang ausbüchst und sich in rauschhafte Zustände spielt. Diese Momente der Entrücktheit, der Weltabgewandtheit feiert das Album. Der Wahn, wie er sich im Schall materialisiert: Dirk von Lowtzow hat sich deshalb nicht lumpen lassen und seine Lyrik, die in verrätselten Bildern und verspielten Gedanken spricht, mit Elementen des Phantastischen, Surrealen, Mythischen aufgerüstet. Seine Reaktion auf den ungeliebten Realitätsabgleich, die ihn zu Reimen treibt wie diesem: "Ich bin Graf von Monte Schizo / und ich singe diesen Hit so". Verweigerung soll eben auch Spaß machen.

Mit "Schall & Wahn" beendet die 1993 gegründete Band ihre "Berlin-Trilogie" - ein spaßiger Verweis auf David Bowie - nach den zwei romantisch versponnenen Manifesten "Pure Vernunft darf niemals siegen" (2005) und "Kapitulation" (2007), die sich gegen die modernen Mächte Rationalität, Fortschrittsoptimismus, Patriotismus und Leistungsethik wandten. Der Bandsound klingt erneut tief und wuchtig, die jenseitigen Streicherarrangements nahm Neue-Musik-Komponist Thomas Meadowcroft vor, die Bläsersätze steuerte das schräge Duo Ja König Ja bei. Diese Kunst hat Konzept und will mehr denn je alles Authentische meiden: die fein inszenierten, unrockigen Bandfotos, das blumige Albumcover. Ihre alten Gegner verfolgen Tocotronic, berühmt geworden durch in Trainingsjackenchic dargebotene Trotzigkeiten wie "Wir kommen um uns zu beschweren", bis in die neuen Songs "Macht es nicht selbst" und "Im Zweifel für den Zweifel". Den Imperativen der Gegenwart begegnen sie mit einem Skeptizismus, der keine Wahrheiten und Sicherheiten zulässt. Das letzte Album der Trilogie setzt diesem Kampf ein vorläufiges Ende, indem es die bisherigen romantischen Ausflüge zu einem phantastischen Trip ausweitet, bei dem der Wahnsinn Methode hat. Berauscht fliehen Tocotronic aus der zwanghaften Wirklichkeit. Sie lassen ein über alle Zweifel erhabenes Werk zurück. Es trägt sein Nichteinverstandensein in ausschweifender Entschiedenheit vor und macht bange auf höchstem Niveau: ein Führer durch die Krisen der Moderne.

Tocotronic: Schall und Wahn (Firma: Universal).

Live: Am 5. März in der Saarbrücker Garage.

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