Der Evolution ins Gesicht geblickt
Saarbrücken. Der Mund ist nicht nur zum Essen da - er kann geschürzt, seine Lippen können aufgeworfen werden, zusammengepresst sein wie ein Strich oder weit und sinnlich geöffnet. Alles hat Bedeutung. Immer mehr verstehen das die Wissenschaftler
Saarbrücken. Der Mund ist nicht nur zum Essen da - er kann geschürzt, seine Lippen können aufgeworfen werden, zusammengepresst sein wie ein Strich oder weit und sinnlich geöffnet. Alles hat Bedeutung. Immer mehr verstehen das die Wissenschaftler.Deutschland ist zum Zentrum der Gestik- und Mimikforschung geworden, seitdem im Jahr 2000 die Freie Universität Berlin unter Leitung von Cornelia Müller, Professorin für Angewandte Sprachwissenschaft an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, das Projekt "Berlin Gesture Project" gestartet hat. Inzwischen gibt Müller auch die Fachzeitschrift "Gesture" heraus. Jetzt trafen sich über 300 Wissenschaftler der "Internationalen Gesellschaft für Gestikforschung" (ISGS) in Frankfurt an der Viadrina, um interdisziplinär den neuesten Stand der Forschung zu erörtern.Wenn sich Gesichter in Ausdrücken entfalten, geschieht das allein zum Zweck der Kommunikation. Vor rund 40 Millionen Jahren war unter unseren Vorfahren die Mundsprache noch nicht entwickelt, es wurde nur gegrunzt, geschrieen und gestöhnt. Die Fähigkeit, im und mit dem Gesicht etwas auszudrücken, gehört zu den ältesten unserer Spezies. Als die Lautsprache kam, ging die Gesichtssprache nicht verloren. Der Homo sapiens ist das einzig wahre soziale Wesen - seine Visage verrät das. Jedes Gesicht der 6,5 Milliarden Erdenbewohner unterscheidet sich von anderen so deutlich wie der Fingerabdruck. Im Sinne der Evolution spielt das Gesicht die entscheidende Rolle. Erotisch anziehende Gesichter sind ein Konkurrenzvorteil.Beispiel Mund. Er ist schöner als die Schnauze unserer Vorfahren, die einen großen Kauapparat brauchten, um überleben zu können. Zähne und Kiefermuskeln waren über Millionen Jahre hinweg die Existenzgarantie. Wer nicht richtig zubeißen und kauen konnte, war benachteiligt. Fleisch und Blätter mussten zerkleinert werden, erst die Umstellung auf weiche Früchte brachte Entspannung. Das Gebiss bildete sich zurück. Nach der Entdeckung des Feuers, als Fleisch gegart werden konnte, brauchte es die Schnauze nicht mehr. Stattdessen fand das Gehirn mehr Platz im Kopf, die Bildungsgeschichte begann, der Mund wurde immer sinnlicher und schöner.Beispiel Kinn. Ein Unding, kein anderes Lebewesen besitzt so einen markanten Gesichtsteil. Es bildete sich, als das Schnappen nach Nahrung und das Nagen aufhörten und sich die Schnauze zurückentwickelte, sagen Anthropologen. Oft ist das Kinn das entscheidende Merkmal, bei Männern wächst es in der Pubertät, wenn Testosteron den Körper flutet. Ein großes Kinn verrät viel Männlichkeitshormon. Der US-Forscher George Williams vergleicht das männliche Kinn mit dem Geweih des Hirsches. Die Gesichtsausprägungen dienen einer verstärkten Mimik, und diese korrespondiert mit der Gestik. Das Ausdifferenzieren in den letzten Jahrhunderten ist offenbar Teil der sexuellen Attraktivität, die zur Weiterentwicklung der Evolution verhilft.