Der „Erneuerer“ der Geschichtswissenschaft

Bielefeld · Er war einer der einflussreichsten deutschen Historiker und prägte wie nur wenige seiner Kollegen öffentliche Debatten mit: Hans-Ulrich Wehler. In der Nacht zum Sonntag ist Wehler im Alter von 82 Jahren gestorben.

Hans-Ulrich Wehler, der Vater der historischen Sozialwissenschaft und führende Kopf der Bielefelder Schule, hat Mitte der 1970er den Paradigmenwechsel seines Fachs von der Geschichte großer Männer und Ereignisse hin zur Analyse von sozialen Strukturen und Prozessen begründet. In seiner Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft" plädierte er immer wieder für die Einbeziehung soziologischer, ökonomischer und sogar psychoanalytischer Ansätze. Ein dezidierter Linker oder gar "68er" war der Sozialdemokrat freilich nie, im Gegenteil. Einige Thesen seines Opus magnum, der fünfbändigen "Deutsche Gesellschaftsgeschichte", stießen auch bei Weggefährten auf Kritik, so etwa der Versuch, Hitlers Aufstieg mit Max Webers Charisma-Begriff zu beschreiben, die Epochenwende von 1968 als "postpubertäre" Reaktion auf eine gar nicht so muffige Adenauer-Zeit zu verkleinern oder seine aggressive Abrechnung mit dem DDR-"Sultanismus".

Wehler ging keiner Talkshow-Debatte und keiner wissenschaftlichen Fehde aus dem Weg. Im Historikerstreit verurteilte er Ernst Noltes Revisionismus, 1996 Daniel Goldhagens These vom deutschen Antisemitismus. Er lehnte den EU-Beitritt der Türkei und Christian Wulffs Wort vom Islam als Teil der deutschen Kultur scharf ab und ließ sogar Sympathien für Thilo Sarrazin erkennen: Die "anatolischen Analphabeten" erschienen ihm als prinzipiell nicht integrationsfähig, Sprechverbote im politischen Diskurs als wenig hilfreich. Zugleich profilierte sich Wehler aber auch immer wieder, zuletzt in "Die neue Umverteilung" und "Die Deutschen und der Kapitalismus", als unerbittlicher Kritiker sozialer Ungleichheit und eines "obszönen" Turbokapitalismus'. Das "Knüppeln", sagte er einmal, habe er als ehemaliger Handballer gelernt. Als Mitglied der "skeptischen Generation" (und Freund Jürgen Habermas ' seit Schul- und Hitlerjugend-Zeiten) hatte er aber auch früh begriffen, dass man für seine Überzeugungen kämpfen muss.

Wehler, 1932 in Freudenberg bei Siegen geboren, hatte 1945 in Köln Kriegstrümmer weggeräumt, und das tat er im übertragenen Sinne dann auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit. Seine erste Habilitationsschrift über den Aufstieg des amerikanischen Imperialismus war noch abgelehnt worden; aber das konnte seinen Aufstieg zum legitimen Erben Max Webers und einflussreichsten deutschen Historiker der Gegenwart nicht aufhalten. Von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1996 lehrte er an der Reformuniversität Bielefeld ; dazwischen immer wieder in Harvard, Princeton, Yale und Stanford.

Manche Thesen Wehlers, etwa die vom deutschen "Sonderweg", gelten heute als überholt. Seine unbeirrte Verteidigung der aktenmäßigen "historischen Sozialwissenschaft" gegen neuere kultur- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze machte ihn zunehmend zum Außenseiter, und als Stilist konnte er nie an die große Tradition deutscher Geschichtsschreibung anknüpfen: "Ich bezahle für meinen analytischen Ansatz den Preis der Anschaulichkeit", analysierte er einmal lakonisch. Dennoch: Hans Ulrich Wehler hat die Modernisierungsschübe und Widersprüche der alten Bundesrepublik nicht nur scharfsinnig analysiert, sondern auch wie kein zweiter deutscher Historiker repräsentiert. Jetzt ist er im Alter von 82 Jahren in Bielefeld gestorben.

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