Der Alltag hinter dem Elektrozaun

In seinem Band „Geraubte Kindheit“ erzählt Thomas Geve seine eigene Geschichte: Wie er die Konzentrationslager Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald überlebte. Das Buch schildert den Alltag dort mit allem Realismus.

Um das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, die Vernichtung der europäischen Juden während der Nazi-Diktatur, historisch redlich aufarbeiten zu können, sind Zeugnisse von Überlebenden unerlässlich. Einer von ihnen ist der 84-jährige Thomas Geve, dessen autobiographischer Bericht "Geraubte Kindheit" authentisch schildert, wie es einem Jungen gelang, den Holocaust zu überleben.

Das Außerordentliche an Geves Buch ist der gesonderte Blickwinkel, der das Unfassbare bündelt: Hier wird mit den Augen eines Heranwachsenden auf einfache und daher besonders ergreifende Weise ein Grauen beleuchtet, das die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Geve ist in den Konzentrationslagern Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald gedemütigt worden und hat nach der Befreiung durch die Amerikaner in einer Reihe von Buntstift-Zeichnungen den Alltag als Gefangener dargestellt. Aus diesen Bildern entstand 1958 der Bericht "Geraubte Kindheit", der nun neu publiziert wird.

Thomas Geve (ein Pseudonym), 1929 in Stettin geboren und in Berlin aufgewachsen, lebt heute in Israel. Deutschland besucht er in den vergangenen Jahren oft - vornehmlich an Schulen versucht er Jugendliche mit seinem Buch bekannt zu machen, da seiner Auffassung nach nur die genaue Kenntnis der Geschichte eine Sicherheitsgarantie für die Zukunft sein kann. Drastische Skizzen ermöglichen einen lebendigen Eindruck vom elenden Lagerleben und der ständigen tödlichen Bedrohung. Da werden die Holzbaracken, umfriedet von einem Elektrozaun, beschrieben; da drohen Wachttürme, von denen aus jeder Schritt der Insassen belauert werden, um sicherzustellen, dass die unmenschlichen Arbeitsanforderungen - in der "Maurerschule" etwa - brutal durchgesetzt werden.

Thomas Geve hat Glück gehabt. Er konnte Auschwitz lebend überstehen, weil er als großer und kräftiger Jüngling in den "Selektionen" für arbeits- und einsatzfähig erkannt wurde. Seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Sein Vater war schon 1939 nach England geflüchtet, wo er als Chirurg arbeitete.

Trotz der Schicksalsschläge vermeidet Geve hasserfüllte Erinnerungen. Sein ausgeglichener Stil ermöglicht lebensechte Einblicke in das tägliche Miteinander der eingepferchten Jugendlichen, ihre Sehnsüchte, ihre verzweifelten geistigen Anrennversuche. Freundschaften entstehen, Gegensätze (zu Sinti und Roma etwa) werden offenbar, Animositäten (gegenüber Homosexuellen) werden nicht verschleiert. Das alles ergibt einen sprachlichen Realismus, der die Aufnahme des Ungeheuerlichen erleichtert. Geve gibt dem Leser das Gefühl einer Hoffnung, er lässt der Zukunft eine Chance.

Thomas Geve: Geraubte Kindheit. Ein Junge überlebt den Holocaust. Donat-Verlag, 238 Seiten, 16,80 Euro.

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