Den Finger in der Wunde

Der deutsch-türkische Regisseur Fatih Akin erzählt in seinem neuen Film vom Schicksal der Armenier. Im Mittelpunkt von „The Cut“ steht der Schmied und Familienvater Nazaret, der ein Massaker 1915 durch die Türken knapp überlebt und eine Odyssee antritt, um seine Töchter zu finden. SZ-Mitarbeiter Martin Schwickert hat mit Akin über den Film gesprochen.

 Nazaret (Tahar Rahim, links) und sein Bruder Hrant (Akin Gazi) werden mit den anderen armenischen Zwangsarbeitern abgeführt. Fotos: Pandora Film

Nazaret (Tahar Rahim, links) und sein Bruder Hrant (Akin Gazi) werden mit den anderen armenischen Zwangsarbeitern abgeführt. Fotos: Pandora Film

 Fatih Akin

Fatih Akin

War dieses dunkle Kapitel der türkischen Geschichte in Ihrer Familie ein Thema?

Akin: Meine Familie hat, wie die meisten Türken, diesen Völkermord verleugnet, weil sie es nicht besser wusste. Sie glaubten die offizielle türkische Darstellung: dass es Angriffe und Massaker seitens der Armenier gab und die Türken zurückschlagen mussten. Dass das ein geplanter und systematischer Völkermord war, wollte man nicht sehen.

Wie kommt es zu dieser hartnäckigen, fast ein Jahrhundert andauernden Verleugnung?

Akin: Atatürk hat 1923 mit der Staatsgründung die "Stunde Null" ausgerufen und alles, was vorher war, aus der offiziellen Geschichtsschreibung eliminiert. Atatürk selbst hat den Völkermord an den Armeniern zwar verurteilt. Aber als er die türkische Regierung gründete, musste er mit Politikern, Gouverneuren und Staatsdienern der "Jungtürken" arbeiten, die für den Genozid verantwortlich waren. Er hat sie vor der Anklage wegen Völkermordes, die die Briten bei den Istanbuler Prozessen erhoben haben, geschützt.

Durchaus ähnlich wie die Adenauer-Regierung nach dem Krieg in Westdeutschland ehemalige Nazis in Regierungsämter berufen hat…

Akin: Der Unterschied ist allerdings, dass Deutschland den Krieg verloren hat und die Sieger bei den Nürnberger Prozessen zumindest einen Teil der Verantwortlichen des Holocaust zur Rechenschaft ziehen konnten. Atatürk hingegen hat es verstanden, nach dem Ersten Weltkrieg die Niederlage in eine siegreiche Befreiung umzumünzen, wodurch die Istanbuler Prozesse scheiterten. Diese Verleugnung reicht in der türkischen Gesellschaft von den Schulbüchern bis tief in republikanische Linke hinein.

Wie haben Sie die Szenen im Todeslager rekonstruiert. Gab es dazu Fotomaterial?

Akin: Es gibt Fotos von Todeslagern, aber nicht von dem Lager, das wir im Film darstellen. Von dem Lager Ras al-Ayn ist heute vor Ort auch nichts mehr zu finden. Da habe ich mich an der Literatur orientiert. Außerdem gibt es im Mahnmal-Museum in Jerewan Gemälde von Todeslagern, an denen ich mich orientiert habe. Diese Todeslager waren keine industriellen Vernichtungslager wie Auschwitz. Man hat die Leute dort einfach in der Wüste verhungern lassen. Der Völkermord an den Armeniern lässt sich nicht mit dem Holocaust vergleichen. Der Holocaust ist einzigartig in der Art des industrialisierten Massenmordes. Dementsprechend hat man in Deutschland bei dem Wort "Völkermord " die Bilder von Auschwitz im Kopf. Das kann hier bei der Rezeption des Films schnell zu Missverständnissen führen.

Der Film verwandelt sich in der zweiten Hälfte in eine Odyssee, als der Vater sich auf die Suche nach seinen Töchtern macht. Warum war Ihnen dieses Reisemotiv so wichtig?

Akin: Im Zuge des Völkermords wurde das armenische Volk zu großen Teilen in alle Winde verstreut. Die Diaspora ist sehr zentral in der armenischen Geschichtsschreibung und deshalb auch für den Film ein wichtiges Element. Ich wollte nicht nur vom Völkermord , sondern auch von den weitreichenden Folgen für die Überlebenden erzählen.

Wer einen Film über Völkermord macht, kommt auch um die Frage der Gewaltdarstellung nicht herum. . .

Akin: Es war klar, dass wir Gewalt zeigen müssen, wenn wir das Thema ernstnehmen. Mir war es wichtig dabei nicht die Würde vor den Opfern zu verlieren. Ich wollte mit den Bildern der Gewalt auch keinen Hass schüren. Wir zeigen die Gewalt aus der Sicht des Protagonisten mit einer distanzierteren Weitwinkel-Optik. Ich wollte die Gewalt eher subtil zeigen. Ich will nicht, dass die Zuschauer aufgrund krasser Gewaltdarstellungen aussteigen. Wenn ich in den Todeslagern ein verhungerndes Baby im Hintergrund schreien höre, ist das für mich ergreifender als ein Enthauptungsvideo auf YouTube .

Womit wir bei den aktuellen Bezügen des Filmes sind, der von einer Region erzählt, die heute wieder hart umkämpft ist…

Akin: Genau in der Gegend, in der die Todeslager waren, findet jetzt die Vertreibung der Kurden durch die Terrorbewegung Islamischer Staat (IS) statt. Der Nahe Osten hat es bis heute nicht geschafft, seine gewalttätige Geschichte zu reflektieren. Der Westen hat das nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht und schließlich zu einer Versöhnung gefunden. Aber wo Wohlstand fehlt, fehlt auch Bildung. Ohne Bildung gibt es keine Reflektion der Geschichte und so sind im Nahen Osten heute Jahrtausende alte Konflikte immer noch präsent. Und genau das sehen wir heute in den Nachrichten.

Ab Donnerstag in der Camera Zwo (Sb). Kritik, auch zu den anderen neuen Filmen der Woche, am Donnerstag in unserer Beilage treff.region.

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