Den alten Freund in der Urne

Es ist noch nicht lange her, da wurde Jonathan Franzen nach einer Lesung in London die Brille von der Nase gerissen. Nach einer filmreifen Verfolgungsjagd durch einen Zierfischteich konnte die Polizei den besessenen Fan stellen. Auf der ganzen Welt berichteten Medien über den Vorfall. Die Episode zeigt, wie populär der Amerikaner seit dem Roman "Die Korrekturen" von 2001 ist

Es ist noch nicht lange her, da wurde Jonathan Franzen nach einer Lesung in London die Brille von der Nase gerissen. Nach einer filmreifen Verfolgungsjagd durch einen Zierfischteich konnte die Polizei den besessenen Fan stellen. Auf der ganzen Welt berichteten Medien über den Vorfall. Die Episode zeigt, wie populär der Amerikaner seit dem Roman "Die Korrekturen" von 2001 ist.

Vier Romane hat Franzen bisher geschrieben. Für die jüngsten zwei brauchte er jeweils neun Jahre. Damit die Zeit dazwischen nicht zu lang wird, erscheint immer mal wieder ein Sammelband. Der neueste heißt "Weiter weg". Um klassische Essays handelt es sich bei den wenigsten der 21 Texte, die zwischen 1998 und 2011 entstanden - vielmehr um Reportagen, Rezensionen, Reden und Nachworte für Neuausgaben. Über manches ärgert man sich, weil es schnell hingeschrieben wirkt. Auch darüber, dass die Quellen nicht verzeichnet sind, die auf die Erstveröffentlichung hinweisen. Andere bereiten dagegen eine unbändige Freude.

Den Buchbesprechungen von Christina Steads "Der Mann, der seine Kinder liebte" (1940), Sloan Wilsons "Der Mann im grauen Flanell" (1955) oder Alice Munros Erzählungen "Tricks" (2006) ist die Liebe zur Literatur anzumerken. Die allein aber reicht nicht für eine gute Kritik. Von diesen "Füllern" abgesehen enthält der Band große Momente. Es geht um Literatur, Narzissmus, permanente Stimulation (durchs Internet) ohne Befriedigung, Natur und um die Grenzen des industriellen Wachstums in einer technokapitalistischen Welt.

Ohne zu moralisieren oder die Situation ins Lächerliche zu ziehen, erzählt Jonathan Franzen mit dem nötigen Galgenhumor in einer klassischen Reisereportage von seiner Suche nach Singvögeln in China ("Der chinesische Papageitaucher", 2008). Was er für Enten auf der Wasserfläche hält, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als Müll. Das zwitschernde Lied eines Vogels stammt vom Kugellager eines sich nähernden Fahrrads.

Am faszinierendsten ist die autobiographische Robinsonade "Weiter weg", die dem Band ihren Namen gibt. Nach einer viermonatigen Lesereise ausgebrannt, flieht Franzen auf die Insel Más Afuera, auf der Alexander Selkirk strandete, das Vorbild für Daniel Defoes "Robinson Crusoe". Im Gepäck hat Franzen eine Urne mit der Asche seines Freundes und Rivalen David Foster Wallace, der sich 2008 erhängte. Der Trip in die vermeintliche Einsamkeit der Natur wird zu einer existenzbedrohenden Konfrontation mit dem eigenen Ich, dem Schreiben und dem Tod des lieben Weggefährten. Hier beweist Franzen auf wenigen Seiten das zarte psychologische Gespür, das seine Bestseller auszeichnet. gro

Jonathan Franzen: Weiter weg - Essays. Rowohlt Verlag, 366 Seiten, 19,95 Euro.

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