Demokratie eine Krankheit, Picasso ein "Kackarsch"

Der Titel klingt seriös: "Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst". Als Verfasser würde man einen renommierten Kunsthistoriker oder Kunstphilosophen vermuten; ist der Band doch in der "edition suhrkamp" erschienen, wo schon Brecht, Benjamin und Adorno veröffentlichten

 Liebt Trainingsjacken und vor allem das Präfix "erz": Künstler Jonathan Meese. Foto: dpa

Liebt Trainingsjacken und vor allem das Präfix "erz": Künstler Jonathan Meese. Foto: dpa

Der Titel klingt seriös: "Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst". Als Verfasser würde man einen renommierten Kunsthistoriker oder Kunstphilosophen vermuten; ist der Band doch in der "edition suhrkamp" erschienen, wo schon Brecht, Benjamin und Adorno veröffentlichten.Diese "Schriften" aber stammen von Jonathan Meese, dem Enfant terrible der deutschen Gegenwartskunst. 650 eng bedruckte Seiten stark ist der Band und bietet doch nur eine kleine Auswahl aus einem laut editorischer Notiz mehr als 50 000 A4-Seiten umfassenden Textkorpus. Wie andere Leute Schweiß in der Sauna, sondert Meese Texte ab; analog zur künstlerischen erfolgt die literarische Produktion wie am Fließband. Hier sollte man keine durchdachte Kunsttheorie erwarten. Großes Kind, das er mit seinen 42 Jahren ist, klotzt, kleckert und kleckst Meese wie in seinen Bildern mit Farbe, so hier mit Wörtern. Heiter greift er in den Lego-Baukasten der Sprache und steckt die Steinchen zu immer neuen Kombinationen zusammen. Jedes zweite Wort ist ein Neologismus: "Sauchronik", "Diamantengott", "Erzgetreidetum". Überhaupt, das Präfix "erz". Meese liebt es. Und so lesen wir zum ersten Mal im Leben Wörter wie Erzmensch, Erzlicht, Erzvampirlicht, Erzschrei, Erzstaatssatanismus, Kampferz - die Liste ist endlos. Auch der Superlativ ist bei Meese beliebt und oft sinnfrei eingesetzt: totalst, absolutest, unermesslichst.

Inhaltlich kann man das nicht ernst nehmen. Meeses Definitionen sind so exaltiert ("Kunst ist der Raubtierduft Ihres Urfanatismus im Vorgebiet Ihrer Erzkraft") wie seine Ausfälle gegen alles und jedes maßlos. Undifferenziert zieht er gegen die Nachkriegsgeschichte vom Leder. Die "Weltdiktatur der Demokratie" ist für ihn das "mieseste Krankheitsbild aller Zeiten". Parteien, Gewerkschaften? Alles unnötiger, "nostalgischer Scheiß", ja "das Hinterletzte". Bis jetzt leben wir in einem "Zeitalter des Selbstverwirklichungsfanatismus" - einer Ära "mickriger Massenindividualisten", zu denen Meese auch die Künstler zählt. Die Dadaisten: "Dreckspack", auch Picasso war "nicht geil genug, von sich abzusehen". Am Ende war er nur einer dieser "selbstbefindlichen Kackärsche". Von dieser Menschheitsverirrung kann uns überhaupt nur die Kunst erlösen. Die ist die "Revolution der Zukunft", ein "Nullpunkt der Totaltotalität".

Zwar maßt sich Meese nicht an, der Messias dieser Umwälzung zu sein; er begnügt sich mit dem Status einer "Totalameise der Kunst". Aber dann wird er einmal doch zum Orakel: "Der Vulkan der Totalkunst bricht bald aus, und es wird die größte Revolution aller Zeiten Alles erfassen". Im Rahmen von Performances und Auftritten hat Meese bereits mehrfach den "Tag der 'Totalstmachtschenkung Kunst'" ausgerufen. Leider hat die Welt von diesem Geschenk bis heute noch nichts mitbekommen.

 Liebt Trainingsjacken und vor allem das Präfix "erz": Künstler Jonathan Meese. Foto: dpa

Liebt Trainingsjacken und vor allem das Präfix "erz": Künstler Jonathan Meese. Foto: dpa

Jonathan Meese: Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst. Suhrkamp, 662 Seiten, 29 Euro.

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