Das Professionelle und das Radikale

Saarbrücken. Wie war dieser Jahrgang nun? Es gab in den zehn zurückliegenden Jahren durchaus schlechtere. Vorbei scheint die Zeit, als man glaubte, eine verwackelte Handkamera genüge, um Authentizität zu schaffen

Saarbrücken. Wie war dieser Jahrgang nun? Es gab in den zehn zurückliegenden Jahren durchaus schlechtere. Vorbei scheint die Zeit, als man glaubte, eine verwackelte Handkamera genüge, um Authentizität zu schaffen. Verschont wurde man weitgehend auch von postpubertären Erweckungsgeschichten, in denen der Auszug eines Lebensdiplomanden in die Welt hinaus uns als Roadmovie oder als Heils- oder Unheilsgeschichte en miniature verkauft wurde.Es scheint so, als würde wieder mehr Wert gelegt auf die Glaubwürdigkeit von Charakteren und eine sinnvolle Erzählökonomie. Nein, dieser Jahrgang konnte sich unterm Strich (an-)sehen lassen. Wobei die jeweiligen Vor-Jurys als Filter wirken, deren Auswahl- und Siebungskriterien und Vorlieben man nicht kennt. Bei den Dokus konnte man fast den Verdacht hegen, dass für die Auswahljury filmsprachliche Aspekte nahezu bedeutungslos waren. Einen formal konventionelleren, bildästhetisch biedereren Doku-Wettbewerb als diesen gab es in Saarbrücken vermutlich nie. Immerhin fanden sich mit "Der Papst ist kein Jeansboy" und "Bulb Fiction" zwei auf ganz unterschiedliche Weise eine originäre Handschrift zeigende Filme.

Dass die Wettbewerbe möglichst ein breites Spektrum an Genres, Themen und Ausdrucksmitteln repräsentieren sollen, erklärt, weshalb es manche in den Wettbewerb schafften, die dort nicht unbedingt etwas verloren hätten, würden allein Qualitätsmaßstäbe angelegt. Etwa die Komödie "Puppe, Icke und der Dicke", die wohl eher als Platzhalter für ein populäres Genre gebraucht wurde. Oder Anika Wangards hanebüchen konstruierter "Crashkurs", der vermutlich wegen des Themas Bankenkrise Aufnahme fand. Nach der sozialromantischen Logik dieses Films müsste man für den Finanzkollaps von 2008 geradezu dankbar sein, weil erst sie Paare hat wieder zusammenfinden lassen.

Auffallend war, dass ansonsten aber viele Filme nicht nur ein Thema durchdeklinierten, das sich groß und relevant genug erwies, um auch bis zum Ende zu tragen. Sondern auch die wachsende Professionalität, mit der sie ihre Geschichten stringent verfolgen. Wann sah man im Langfilmwettbewerb zuletzt derart viele Filme, die in kompromissloser Radikalität ihre Erzählweise beibehalten und in gezielter Rücksichtslosigkeit ihren Zuschauern viel abverlangen? Diesmal waren es mit "Der Fluss war einst ein Mensch", "Michael", "Stillleben" und "Totem" gleich vier von 16. Umso mehr fielen Debüts auf, die dramaturgisch auf halbem Weg stecken blieben oder auseinander fielen (neben "Crashkurs" etwa "Dr. Ketel", "Mike" oder "Snowchild").

Dass die Zweitfilme im Wettbewerb oft auch die ausgereifteren waren (ob "Die Farbe des Ozeans", "Die Unsichtbare" oder "Festung" und "Manipulation"), zeigt umso mehr die Leistung des großen Ophüls-Gewinners Markus Schleinzers, der ja mit "Michael" seine erste Regiearbeit überhaupt vorlegte. Dennoch funktioniert dieses Psychogramm eines Päderasten nur beim ersten Sehen. Schaut man sich den Film ein zweites Mal an, wirkt er - in Kenntnis des Folgenden - nach den ersten, extrem dichten 45 Minuten wie zu Ende erzählt, seiner früheren Intensität beraubt. Weil er bei genauerer Betrachtung doch weniger psychologische, gesellschaftliche und ästhetische Ebenen aufweist als es zunächst den Anschein hat?

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