Das Meer als sechster Kontinent

Hamburg · Wie hängen die Warenströme, die Flucht- und Migrationsbewegungen, der Transfer von Informationen, Kultur, aber auch von Konflikten und Gewalt miteinander zusammen? Damit beschäftigt sich jetzt eine Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen.

 Wie Überbleibsel menschlicher Existenzen: Kader Attias Installation „La Mer Morte“. Fotos: Scholz / dpa

Wie Überbleibsel menschlicher Existenzen: Kader Attias Installation „La Mer Morte“. Fotos: Scholz / dpa

 Die Installation „Cocoa Milk“ von Thomas Rentmeister.

Die Installation „Cocoa Milk“ von Thomas Rentmeister.

Wer im Dezember am Hamburger Hauptbahnhof ankam, der sah Teeküchen, Essensausgaben und provisorische Zelte, in denen Menschen, die ihre Heimat verließen, zumindest notdürftig versorgt wurden. Viele der Neuankömmlinge haben auf ihrer Odyssee mindestens ein Meer überwunden. Sei es jenes zwischen Nordafrika und Süditalien oder die griechische Ägäis.

Als die aus dem Senegal stammende Kuratorin Koyo Kouoh vor rund zwei Jahren mit der Vorbereitung der Ausstellung "Streamlines. Ozeane , Welthandel und Migration " begann, konnte sie nur ahnen, wie drängend das Thema ihrer Ausstellung zur Zeit der Eröffnung sein würde. 15 internationale Künstler aus Afrika, Lateinamerika, Asien und Europa schauen jetzt genauer hin. Wie hängen die Warenströme, die Flucht- und Migrationsbewegungen, der Transfer von Informationen, Kultur, aber auch von Konflikten und Gewalt miteinander zusammen? Und welche Rolle spielt dabei das Meer?

Koyo Kouoh, aufgewachsen in der senegalesischen Hafenstadt Dakar, war 2007 und 2012 Mitglied im Kuratorenteam der Documenta in Kassel. Die Ozeane definiert sie als den sechsten Kontinent: "Auf eine metaphorische Art und Weise haben die Ozeane keine Grenzen. Und sie widersetzen sich jedem, der versucht, welche zu ziehen."

Obwohl nahezu allen Arbeiten kritisch-analytische Ansätze zugrunde liegen, ist "Streamlines" zu einer überaus sinnlichen Ausstellung geworden. Einen ersten Eindruck davon vermittelt gleich zu Beginn des Parcours die Arbeit von Otobong Nkanga. Die in Antwerpen lebende Nigerianerin hat eine Wandarbeit mit den Konturen der Elbe geschaffen, die mit Genussmitteln und Gewürzen, wie sie in der Hamburger Speicherstadt verarbeitet werden, angefüllt ist. Schreitet man sie ab, so sieht und riecht man Pfeffer, Kaffee, Tee, Kakao und Tabak. Alles Waren aus weit entfernten Weltgegenden, die aber seit Jahrhunderten auch unseren kulturellen Kosmos prägen.

Weniger sinnlich, dafür aber in ihrer minimalistischen Konsequenz beeindruckend, ist die Arbeit des Berliner Bildhauers Thomas Rentmeister. Aus 6900 Tetra Paks mit Kakao Drinks hat er eine Bodenskulptur geschaffen, die auf erschreckende Art und Weise zeigt, wie aus einem exotischen Rohstoff durch industrielle Verarbeitung ein hässlich verpacktes Massenprodukt entsteht. Unmittelbar auf das Schicksal von Flüchtlingen geht der algerisch-stämmige Franzose Kader Attia ein. In drei Leuchtkästen zeigt er Fotografien junger algerischer Männer, die voller Sehnsucht am Strand von Algier sitzen und in Richtung Europa schauen. Gleich davor hat er die aus rund 300 gebrauchten blauen Kleidungsstücken bestehende Bodenskulptur "La Mer Morte" aufgebaut. Die ramponierten Textilien wirken wie Überbleibsel menschlicher Existenzen. In dieser ansonsten an eleganten Metaphern und Allegorien reichen Schau das wohl konkreteste und bedrückendste Exponat.

Eine Künstlerin, die sich seit Jahrzehnten mit dem Austausch von Gütern, Wissen, Techniken, Religionen und Weltanschauungen beschäftigt, ist die 1942 geborene Berliner Filmemacherin und Fotografin Ulrike Ottinger. Im hinteren Teil der Halle hat sie eine Art Containerdorf aufgebaut. Für ihre Arbeit "Diamond Dance" besuchte sie Anfang der 1980er-Jahre die Zentren des Diamantenhandels in New York, Hong Kong, Antwerpen und Bombay. Ihre bildgewaltige Installation vereinigt Fotografien , Filme, Wandtapeten, historisches Quellenmaterial und bedruckte Vorhänge. "Weltweite Verbindungen", so Ottinger, "gab es, lange bevor das Wort Globalisierung in aller Munde war."

Ob farbenfrohe, großformatige Tapisserien von Abdoulaye Konaté aus Mali zu Themen wie Kolonialismus und Umweltverschmutzung oder das anrührende Video des Thailänders Arin Rungjang über seinen Vater, der 1977 in Hamburg von Neo-Nazis verprügelt wurde und kurz nach seiner Rückkehr nach Thailand starb: "Streamlines" ist eine intelligent zusammengestellte Schau mit 15 prägnanten Positionen aus vier Kontinenten, die den Finger in die Wunde des alten und neuen Kolonialismus legt.

Bis 3. März. Katalog: Snoeck Verlag, 256 Seiten, 29,80 Euro. Info: www.deichtorhallen.de

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