Das „Märchen vom Fahrrad“

Noch bis Sonntag läuft der 97. Giro d'Italia. Passend dazu ist nun ein Buch erschienen mit Reportagen des Schriftstellers und Journalisten Dino Buzzati. Er beobachtete das Radrennen vor genau 65 Jahren.

Pünktlich zum Giro d'Italia 2014 hat der auf Radsport spezialisierte Covadonga Verlag ein Kleinod herausgebracht: Dino Buzzatis Reportagen über den 32. Giro, der 1949 ausgetragen wurde. Der damals bereits renommierte Autor ("Die Tatarenwüste", 1940) begleitete den Wettkampf für die Zeitung "Corriere della Sera" - ein Glücksfall für Sport wie Literatur. Die beiden Legenden des italienischen Radsports traten gegeneinander an: der 35-jährige Gino Bartali, der "alte Löwe", und der 30-jährige Fausto Coppi. Beide hatten glühende Bewunderer - man war "Bartalist" oder "Coppist".

Buzzatis Reportagen, weit mehr als bloße Berichterstattung, werden zur Erzählung vom "Abenteuer des Lebens", und die poetische Abschweifung erst vertieft das Gesehene. Einzigartig ist schon die Eröffnung des Dramas - nachts auf dem Schiff, von Genua Richtung Süden. Die Helden schlafen in ihren Kabinen, und die bevorstehenden 4088 Kilometer ziehen durch ihre Träume.

Es geht um Zeit und Tempo. Scheinbar müßig, das zu erwähnen, doch Buzzatis Reflexionen erst bringen es zu Bewusstsein: Das Wesen eines Rennens besteht in der Forcierung der Vergänglichkeit, im ständigen "Vorbei". So entfaltet sich ein subtiles Spiel mit Perspektiven, mal überlässt sich Buzzati dem Sog der Geschwindigkeit, mal verweilt er, um die Geschichte der Orte zu erzählen, die die Fahrer nur schemenhaft wahrnehmen. Hier werden die Reportagen zum Bild des Landes, unübersehbar der Wunsch, das Sportereignis möge sinnstiftend wirken. Buzzati versammelt die Zuschauer an den "Straßen Garibaldis" - fünf Jahre nach Kriegsende spricht daraus die Hoffnung auf die Zukunft der Republik.

Schließlich steigt die Spannung ins Fieberhafte: Auf der Dolomiten-Etappe (3900 Höhenmeter Aufstieg) beginnt Coppi seinen Angriff, um schließlich auf dem drittletzten, wahrhaft höllischen Abschnitt durch die Seealpen (4700 Höhenmeter Aufstieg) mit einem grandiosen Solo davonzuziehen. Buzzatis Schilderung des Alleingangs über fünf Hochgebirgs-Pässe ist atemberaubend. Übersetzerin Michaela Heissenberger gelingt es, den kunstvollen Ton, die Schwebe zwischen Nüchternheit und Leidenschaft, wunderbar wiedergegeben.

Buzzatis "Märchen vom Fahrrad" ist in Monza zu Ende, die Geschichte der Helden aber muss zu Ende erzählt werden: Fausto Coppi, der "Weltmeister der Weltmeister", wurde zur Ikone des Tragischen. Bei einem Wettkampf in Obervolta infizierte er sich mit Malaria, 1960 starb er im Alter von 40 Jahren. Bartali wiederum wird Italien 2014 besonders ehren - am 18. Juli würde er 100 Jahre alt. Das Land hat allen Grund, stolz auf ihn zu sein: Während seiner Trainingsfahrten in den Kriegsjahren transportierte er, im Fahrradrahmen versteckt, gefälschte Papiere, die italienischen Juden die Emigration ermöglichten. Wenn der Sport nicht zur Schule des Lebens und der Solidarität werde, sei er keinen Pfifferling wert, sagte er einmal. In der Gedenkstätte Yad Vashem ist sein Name verewigt - Gino Bartali, "Gerechter unter den Völkern".

Dino Buzzati: Beim Giro d'Italia: Die Italien-Rundfahrt 1949 und das große Duell zwischen Fausto Coppi und Gino Bartali. Mit einem Vorwort von Michael Reinsch und einem Nachwort von Claudio Marabini. Aus dem Ital. von Michaela Heissenberger. Covadonga Verlag, 191 Seiten, 12,80 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort