Das Hin und Her der Schritte

Stundenlang durch die Stadt laufen, die kleinen verwunschen Ecken und unscheinbaren Orte, aber auch die Peripherie der Randbezirke kennen lernen, das ist die Passion der Stadtwanderer. Albrecht Selge hat sie beschrieben

Stundenlang durch die Stadt laufen, die kleinen verwunschen Ecken und unscheinbaren Orte, aber auch die Peripherie der Randbezirke kennen lernen, das ist die Passion der Stadtwanderer. Albrecht Selge hat sie beschrieben. Es ist zu vermuten, dass der Autor allein läuft, um die eigenen Gedanken zu filtern, den optimalen Schritt für sich zu finden, mit eigenen Augen Neues zu entdecken und darüber auf höchst persönliche Weise wach zu werden.Selges Figur in "Wach" heißt August Kreuzer, ist im selben Alter wie sein Erfinder, hat aber keine Kinder wie der Autor. Dafür eine Freundin, die wie Kreuzer BWL studiert hat, aber wie der Freund der Kultur anhängt. Bei einem Abend über Gustav Mahler haben sie sich kennen und schätzen gelernt; ob daraus Liebe geworden ist, bleibt ungewiss. Kreuzer, im Brotberuf Manager in einer monströsen Shopping Mall und Liebling seines Chefs, aber mit wenig Engagement für den Job, flüchtet sich immer mehr in die Klangwelt von Chopin, Schubert und anderen. Er produziert sie selbst, am eigenen Klavier zu Hause, dem Mittelpunkt seiner akkurat arrangierten Wohnung. Bis er eines Tages das Spazierengehen entdeckt, womit ihm das Runterschalten gelingt, das Ruhigwerden, das Gewinnen anderer Wichtigkeiten. Woraus das Stadtwandern wird, das mit Kilometer-Schrubben, aber auch der Wahrnehmung des Genusses der Langsamkeit in der immer hektischeren Umwelt zu tun hat. Neudeutsch: Entschleunigung.

In Selges überrascht-neugierigem Sprachton heißt das: "August ist auf einen weitläufigen Platz geraten; er hat ihn zwar angesteuert, aber auf einen so ausgedehnten Platz kann man immer nur geraten sein, und der Platz kann noch so dichtbevölkert sein, man muss ihn immer als leergefegt empfinden, als Quadratmeileneinöde, Steppe und Rumpelkammer in einem, Gerölllandschaft aus Steinplatten, Betonebenen, verstreuten Pavillons, Brunnen, Bassins, Rampen, eingezirkeltem Grün, vor der Horizontlinie einer langgestreckten Reihe von Wohnblöcken." Das ist literarisch anspruchsvoll, in diesem Romandebüt wird sich der Leser gern verlieren.

Wolfgang Büscher hat vor Jahren damit angefangen, aber der nimmt riesige Strecken unter seine Wanderstiefel - so lief er von Berlin nach Moskau - , auf denen er auch durch Städte geht. Selge bleibt in Berlin. Sein August Kreuzer ist ein moderner Flaneur, der mit dem Hin und Her seiner Schritte dem heutigen Tempowahnsinn entkommen will. Darin erinnert er an Walter Benjamin und Franz Hessel - vor rund 80 Jahren geübte Stadtflaneure, auf die sich Selge auch beruft. Es waren und sind offenbar gerade Intellektuelle, die mit geradezu kindlicher Lust auf Entdeckungstouren gehen. Nicht immer zum Guten der eigenen Gesundheit. Kreuzer übertreibt es, verstrickt sich in Beobachtungen, kann nicht mehr gehalten werden, selbst nicht vom Schlaf. Fünf Wochen vegetiert er in einem Trancezustand, dann bricht er erst geistig, dann körperlich zusammen.

Albrecht Selge fügt in sein Debüt unverblümt Autobiografisches ein. Während seines Studiums litt er an Schlaflosigkeit, das musste er bewältigen und kam aufs Stadtflanieren. Tage- und nächtelang war er für sein Buch unterwegs. Vom Stadtbezirk Wedding aus, wo er wohnt mit seiner Familie. Sein Roman erzählt viele Geschichten, die alle aufgehoben sind in der einen Geschichte, dass es sich zu leben, zu laufen und neugierig zu sein lohnt. Eine wunderbare Stadt-Daseinserkundung.

Albrecht Selge: Wach. Rowohlt Berlin, 252 S., 19,95 €

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