Carolin Emcke fragt danach, wie wir begehren

"Die Welt teilte sich. Sie spaltete sich auf in Geschlechter, schon bevor die Körper sich dessen bewusst wurden . . . ein Naturgesetz ohne jede Natürlichkeit." Carolin Emcke, 45, schreibt über ihr jugendliches Erwachen, die plötzlichen "feinen Unterschiede"

"Die Welt teilte sich. Sie spaltete sich auf in Geschlechter, schon bevor die Körper sich dessen bewusst wurden . . . ein Naturgesetz ohne jede Natürlichkeit." Carolin Emcke, 45, schreibt über ihr jugendliches Erwachen, die plötzlichen "feinen Unterschiede". Es ist die Zeit sexuellen Erwachens und damit des Begehrens, das anfangs noch zart ist, aber allmählich rau und radikaler wird. Da werden "Scripts", Drehbücher von Filmen, auf einmal aufs eigene Leben bezogen, und Bücher können von fast elementarer Bedeutung für den eigenen Lebensentwurf sein. Von da ab geht es für Halbwüchsige um sexuelle Identität, das Dazugehören durch Gefühle und Lustempfindungen. Ein neues Kapitel in der Biografie und in den 70ern und 80ern, die Emcke beschreibt, ein schwieriges. Ihr Buch stand auf der Nominierungsliste für den Preis der Leipziger Buchmesse.Die promovierte Philosophin und freie Publizistin, die für die "Zeit" und andere Blätter arbeitet und viel in Krisenregionen wie Gaza, Irak oder Pakistan unterwegs ist, erhielt zahlreiche Preise. Sie ist bisexuell, lebte früher mit Männern, aber seit vielen Jahren als Lesbe. Sex unter Frauen ist ein Thema des Buches. Wie Emcke ihr Leben Revue passieren lässt, ihre Liebschaften, und de facto die Emanzipationsgeschichte der Sexualität in der alten Bundesrepublik aufrollt, ist zielführend. Schwierig wird es, wenn sie das Bild der Modulation, wie man es aus der klassischen Musik kennt, auf das Begehren überträgt, aber in der Engführung nur auf homosexuelles Leben und Lieben. Ihr alter Musiklehrer brachte ihr bei, dass es Variationen und Abweichungen in den Klangfarben der Musik gibt. Diese Modulation wird im Buch auf die Praktiken des Verlangens umgesetzt, aber der Tonfall hat etwas seltsam Moralisches, Verteidigendes. Wenn dann noch Dick und Doof oder Ben Hur als Schwule einkassiert werden, fragt sich der heterosexuelle Leser, was dadurch gewonnen ist. Auch andere Künstler und ihre Figuren, etwa Sherlock Holmes, werden als Homosexuelle vereinnahmt. Wozu?

Emckes Beispiele und ihre Biografie sind Anlässe für Gesellschaftskritik. Auf der sozialen Ebene hat das seine Berechtigung. Mitunter wird die Sprache Emckes aber, wo sie apologetisch wird, seltsam kitschig. Gleichwohl ist das Buch lesenswert als Selbstfindungsauskunft eines Menschen, dem das Heterosexuelle automatisch andressiert werden sollte und der sich erfolgreich dagegen gewehrt hat. Am Beispiel des Klassenkameraden Daniel macht Emcke sichtbar, wohin "einsames Begehren" führen kann. Die Meta-Figur taucht immer wieder auf, der homosexuelle Junge brachte sich kurz nach dem Abitur um. Weil er sich nicht angenommen fühlte.

Carolin Emcke: Wie wir begehren. S. Fischer, 256 S., 19,99 €

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