Bilder finden für unsichtbare Gefühlszustände

"Aber für mich ist er wahnsinnig konsequent erzählt" - das ist einer der Sätze, die immer (und also auch in diesen Festivaltagen) fallen, wenn Filme verteidigt werden, die irgendein soziales Übel dadurch abbilden, dass sie extrem lange, absichtlich quälende Einstellungen wählen und ihre Figuren viel schweigen lassen

 "Alle in dem Film tun eigentlich nichts, lösen damit aber etwas aus": Sebastian Meise. Foto: Dietze

"Alle in dem Film tun eigentlich nichts, lösen damit aber etwas aus": Sebastian Meise. Foto: Dietze

"Aber für mich ist er wahnsinnig konsequent erzählt" - das ist einer der Sätze, die immer (und also auch in diesen Festivaltagen) fallen, wenn Filme verteidigt werden, die irgendein soziales Übel dadurch abbilden, dass sie extrem lange, absichtlich quälende Einstellungen wählen und ihre Figuren viel schweigen lassen. Gleich drei von 16 Langfilmen im Wettbewerb sind im Prinzip so gebaut: "Totem", "Michael" und eben auch "Stillleben". Fragt man Regisseur Sebastian Meise (35), warum er dies gedehnte Erzählen gewählt hat, antwortet Meise, der nicht von ungefähr Michelangelo Antonioni sein Vorbild nennt, es gehe ihm "grundsätzlich immer vor allem um Atmosphäre".Tatsächlich geht Meises Konzept insoweit in seinem Debüt auf, das weitgehend unsichtbar bleibende Gefühlszustände situativ versinnbildlichen will und sein Abschlussfilm an der Wiener Filmakademie ist, wo Michael Hanecke und Peter Patzak lehren. "Stillleben" basiert auf einem Projekt an der Berliner Charité, in dem noch nicht straffällig gewordene Pädophile therapiert werden und stellt die Frage, inwieweit ein Mensch alleine aufgrund seiner Phantasien Schuld auf sich lädt. Gezeigt wird, wie ein Vater zu einer Form der Selbstjustiz getrieben wird, nachdem sein Sohn herausfindet, dass er seit Jahren im Stillen seine sexuellen Neigungen auf die eigene Tochter projeziert. Wie sehr diese Enttarnung alle familiären Zusammenhänge schlagartig ins Wanken bringt und einen "Point of no return" markiert, zeichnet der sich auf die ersten 48 Stunden nach dem Familienweltzusammenbruch konzentrierende Film subtil nach. Und wiederholt dabei narrativ "den Schockzustand" (Meise), in dem sich Vater, Mutter, Sohn und Tochter befinden.

Warum aber lässt er alle ähnlich reagieren und verzichtete damit auf eine Gegenfigur, die dem Film eine weitere Ebene ermöglicht hätte? Die Tochter sei doch, indem sie am Ende auf den Vater zugehe, ein Kontrapunkt, sagt Meise. Am Schluss kulminiert in einem großen metaphorischen Bild, was sein Film als Grundmotiv zuvor 75 Minuten lang durchdekliniert hat und was Meise so beschreibt: "Alle, die in dem Film agieren, tun eigentlich nichts und lösen damit aber etwas aus."

Noch während der 30 Drehtage (Budget: 1,1 Millionen Euro) habe er vieles wieder umgeschrieben und vorgesehene Dialoge gestrichen, "die mehr erklären sollten". Wenn man sich auf ein solches gedehntes, atmosphärisches Erzählen einlasse, müsse man "das durchziehen". (Das Wort "konsequent" fällt nicht, aber man hört es quasi mit.) Dass es im Frühjahr 2010, als der Film entstand, in Österreich nahezu sechs Wochen lang schüttete, sei eine der größten Hypotheken gewesen, erzählt Meise. Weil er als Kontrast zum Erzählten Sonnenschein brauchte, um anzudeuten, dass da etwas in eine vorgebliche Idylle einbricht. Es gab dann wenigstens noch vier halbwegs sonnige Tage. Dass Filme nie gemäß ihrer späteren Erzählchronologie entstehen, ist klar. In dem Fall aber trieb der Regen die "A-Chronologie" (Meise) auf die Spitze. Doch habe er dabei viel gelernt, weil man aufgrund der zeitlichen Gegenläufigkeit der Szenen "noch viel genauer hinsehen muss".

Das tut Meise beim Thema Pädophilie weiterhin. Im Zuge der Recherchen zu seinem Debüt stieß er auf einen Probanten aus dem Berliner Charité-Projekt, dessen therapeutischen Weg er parallel zu "Stillleben" vier Jahre lang in einem Dokumentarfilm begleitet hat. Die Gespräche mit einem Verleih, um "Outing" ins Kino zu bringen, laufen schon.

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