Aufstehen Erst aufgestanden – und dann sitzengeblieben

Berlin · Sahra Wagenknecht blickt ein wenig neidisch nach Frankreich. Dorthin, wo die „Gelbwesten“ zu Zehntausenden auf die Straßen gehen und Staatschef Emmanuel Macron milliardenschwere Zugeständnisse im Sozialbereich abringen.

 Sahra Wagenknecht und ihr Ehemann Oskar Lafontaine wollten mit der Bewegung „Aufstehen“ linke Mehrheiten organisieren.

Sahra Wagenknecht und ihr Ehemann Oskar Lafontaine wollten mit der Bewegung „Aufstehen“ linke Mehrheiten organisieren.

Foto: dpa/Britta Pedersen

So etwas – ohne Gewalt – hatte die Linksfraktionschefin wohl im Sinn, als sie vor 100 Tagen ihre Sammlungsbewegung „Aufstehen“ ins Leben rief. Menschen auf der Straße, Protest, ein gemeinsames Ziel. „In Deutschland brauchen wir sicherlich keine brennenden Autos“, meint sie. „Aber auch Druck von der Straße, Gegenwehr der Menschen, die seit Jahren von den Regierungen im Stich gelassen werden.“

Ein wenig Resignation schwingt mit, wenn Wagenknecht so etwas sagt. Sie weiß, dass man in Frankreich viel eher auf die Straßen zieht als in Deutschland, ein Erbe der Französischen Revolution vielleicht. „Wir erleben eine Lähmung der Politik, die viel Unzufriedenheit erzeugt, aber bisher kein Aufbegehren“, sagt die Linksfraktionschefin.

So ein Aufbegehren, das wollten Wagenknecht und ihr Mann Oskar Lafontaine mit „Aufstehen“ entzünden. Sie wollten die Straße nicht länger den Rechten überlassen, sagten sie im Spätsommer. „Aufstehen“ solle eine linke Mehrheit organisieren. Doch die mit hohen Erwartungen gestartete Bewegung ist zumindest auf der Straße – da, wo sie hinwollte – bisher kaum sichtbar.

Gerade kündigte Wagenknecht ein Programm an, das zeigen solle, was eine Regierung in 100 Tagen im Leben der Menschen verbessern könnte. Doch was hat „Aufstehen“ selbst in 100 Tagen geschafft? Rund 167 000 Unterstützer haben sich per Mausklick angeschlossen, Ortsgruppen gegründet. Zu öffentlichen Veranstaltungen kamen mal 200, mal 500 Leute. Als sie zum 9. November fünf graue Mauersegmente vor dem Brandenburger Tor umkippen ließen, waren es nach Angaben der Organisatoren rund 1000.

Langfristig seien die Erfolgschancen für die Bewegung gering, konstatiert der Berliner Soziologe Dieter Rucht. Der Zustrom von Anhängern werde stagnieren. „Nach einer Phase der Euphorie, wie sie auch für Attac, die Piratenpartei, Occupy, Blockupy, Pulse of Europe und La France insoumise kennzeichnend war, beginnen die Mühen der Ebenen“, schreibt er in einer Analyse. Rucht nennt eine Reihe Probleme: den fehlenden Rückhalt für „Aufstehen“ bei den Linken, eine Distanz bei SPD und Grünen, die Gründung von oben und die Fokussierung auf Wagenknecht. Mit anderen sozialen Bewegungen sei „Aufstehen“ nicht gut vernetzt. Außerdem helfe nicht gerade, dass immer wieder spekuliert werde, Wagenknecht wolle eine neue linke Partei gründen.

Die 49-Jährige weist das von sich. Zugleich muss sie einräumen, dass „Aufstehen“ noch keine schlagkräftige Bewegung ist. „Das müssen wir noch unter Beweis stellen“, sagt sie. Ein „Frühjahr des sozialen Protests“ soll es richten – vielleicht auch mit Demonstrationen vor dem Kanzleramt. Wer da allerdings – auch in ihrem Namen – auf die Straße gehen könnte, kann Wagenknecht schwer sagen. Wer sich bei der Bewegung anmeldet, kann freiwillig seine Parteizugehörigkeit nennen. 11 000 Linke-Mitglieder haben das getan, gut 5000 SPD-Mitglieder, 1000 Grüne und auch bis zu 100 AfD-Mitglieder. Wagenknecht ist stolz, Milieus zu erreichen, in denen auch die AfD auf Wählerfang geht. Es gehe um „Leute, die wütend sind, denen es nicht gut geht“. „Wir wünschen uns, sie für „Aufstehen“ zu gewinnen“, sagt die 49-Jährige. AfD-Mitgliedern werde allerdings nahegelegt, die Partei zu verlassen.

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