Beeindruckende Schlichtheit

Berlin. Der Bau spielt mit Berlin. Von jedem Leseplatz und jedem Regal aus sind Blicke in die hauptstädtische Mitte möglich. Wer hier liest und arbeitet, kann zwischendurch auf die glänzende Kuppel des Bode-Museums mit seinem Skulpturenpark schauen, auf das S-Bahn-Viadukt an der Friedrichstraße, über das alle paar Minuten Züge rollen, und andere Fassaden

Berlin. Der Bau spielt mit Berlin. Von jedem Leseplatz und jedem Regal aus sind Blicke in die hauptstädtische Mitte möglich. Wer hier liest und arbeitet, kann zwischendurch auf die glänzende Kuppel des Bode-Museums mit seinem Skulpturenpark schauen, auf das S-Bahn-Viadukt an der Friedrichstraße, über das alle paar Minuten Züge rollen, und andere Fassaden. Die Bibliothek grenzt an die Planck- und Geschwister-Scholl-Straße, ganz nahe zum Bahnhof Friedrichstraße. Ein strikter Rasterbau von majestätischer, fast sakraler Eleganz, klar gegliedert und imposant. Wer in diesem Haus des Wissens sitzt, verliert, wenn er aus einem der vielen Fenster schaut auf Fußgänger und Verkehr, nie die Bodenhaftung. Er kann aber seinen Blick auch in die Höhe schweifen lassen und in den Himmel über Berlin versenken. Ein reizvolles Spiel.

Transparenz, Harmonie und Übersichtlichkeit bestimmen den Neubau, der 75,5 Millionen Euro gekostet hat und für den viele Tonnen heller Jurakalkstein aus dem Spessart herangekarrt wurden. Er trägt den Namen Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum und ist die erste zentrale Bibliothek der Berliner Humboldt-Universität, die derzeit ihren 200. Geburtstag feiert. Jahrzehntelang waren geisteswissenschaftliche Bibliotheksbestände über die gesamte Stadt verstreut, die Studenten mussten mal hier, mal dahin fahren. Jetzt stehen ihnen 1250 Leseplätze auf vier Terrassen über die gesamte Gebäudehöhe von 35 Metern zur Verfügung. Mit rund 2,5 Millionen Bänden ist das Grimm-Zentrum seit seiner Eröffnung vergangene Woche Deutschlands größte Freihandbibliothek.

Der Entwurf stammt vom Schweizer Architekten Max Dudler. Nüchtern, aber mit Sinn für den optischen Dialog mit dem historischen Berliner Zentrum nahe der Hackeschen Höfe in der Spandauer Vorstadt, hat Dudler sein Gebäude als einen Zielpunkt im wiedererstandenen städtebaulichen Ensemble platziert. Die Bibliothek steht genau am richtigen Ort. Der Geist positioniert sich zwischen Spreefluss, Bahnhof, Geschäftshäusern und Museen am Rand eines Stadtplatzes, der zunehmend an Bedeutung gewinnt. Nicht umsonst flanieren hier schon Touristen, sie haben den Ort entdeckt, und bald werden auch Stadtführungen Einblicke in die Bibliothek gewähren.

Sie ist innen von klarer Schönheit, nimmt dabei die wassergestrahlte Rasterfassade der Außenhaut auf und überführt sie in eine Raumgitter-Ästhetik, deren Proportionen stimmen. Alles wirkt selbstbewusst, keine Experimente, nichts, was sich spreizt oder gefällig rundet. Die Architektur protzt nicht, sie dient dem Geist. Stein und Glas rhythmisieren den Raum, einen Tageslichtsaal ohne Schlagschatten. Buchmagazine und Leseplätze sind aufeinander abgestimmt, lange Treppenläufe eskortieren den Saal, Rücksprünge und Abstufungen des Baukörpers verhindern Monotonie. Die Regale bestehen aus amerikanischem Kirschholz, das aufblüht, fallen Sonnenstrahlen darauf. Die Materialien sind gezielt ausgewählt, Dudler legte ein Gesamtkonzept vor, das für eine gelassene Homogenität sorgt. Nichts soll den tätigen Geist ablenken, alles ihn beruhigen. Ein perfektes Konzept.

Berlin hat in den vergangenen Jahren mehrere Bibliotheken (zurück-)erhalten. Norman Foster baute die Philologische Bibliothek der Freien Universität, Stephan Braunfels die für das Parlament, und die alte Staatsbibliothek wurde von HG Merz aufgewertet. Aber Max Dudlers Bau ist nun der fehlende Eckstein der Berliner Bibliothekswelt. Anders gesagt: Das Grimm-Zentrum ist einfach schön, man verguckt sich schnell in das Gebäude. Es ist nicht zu schwer, aber auch nicht zu leicht, will nicht auftrumpfende Architektur sein, besitzt aber architektonische Würde. Das Selbstverständliche des Einfachen in der Baukunst, das richtige Weglassen - hier ist es gelungen. Ein Glücksfall für die Hauptstadt und ihre Besucher.

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