Aus Sorge um einen Toten

Saarbrücken · Der 23. Mai 2010 versprach in Amsterdam ein frühsommerlich warmer, mit viel Blau aufgeladener Tag zu werden. Bei A.Fth. van der Heijden und seiner Frau Mirjam Rotenstreich, Schriftstellerin wie er, klingelten an diesem Pfingstsonntag in der Früh zwei Polizisten

Der 23. Mai 2010 versprach in Amsterdam ein frühsommerlich warmer, mit viel Blau aufgeladener Tag zu werden. Bei A.Fth. van der Heijden und seiner Frau Mirjam Rotenstreich, Schriftstellerin wie er, klingelten an diesem Pfingstsonntag in der Früh zwei Polizisten. Mit dem, was sie ihnen eröffneten, zerbrach ihr Leben: Tonio (21), ihr einziger Sohn, war um 4:31 Uhr radelnd von einem Auto erfasst worden. Am selben Tag erliegt er seinen Verletzungen. Die Eltern sind dabei, als die Ärzte aufgeben und die Geräte abschalten."Es fiel mir schwer, mir nun ausgerechnet dieses Bild von Tonio, wie er dort lag, für den Rest meines Lebens einzuprägen. Erhob nur der letzte Eindruck, den jemand hinterlassen hat, Anspruch auf Gültigkeit?", hält der Vater fest. In einer zu Herzen gehenden 670-seitigen Totenklage, einem "Requiemroman", versucht van der Heijden gegen die Endgültigkeit dieses Todes anzuschreiben. Sein Buch ist eine einzige große, rituelle Vergegenwärtigung, ja Rückeroberung des geliebten Sohnes. Der Ehrlichkeit, Hilflosigkeit, Schonungslosigkeit, in der dies geschieht, kann, will man sich nicht entziehen. Und ertappt sich dabei, immer wieder das Foto Tonios auf dem Cover anzusehen und unters Licht zu halten, als könne man ihm selbst so näherkommen.

Auch Monate nach Tonios Tod verbietet sich für Andri van der Heijden, was selbsternannte Bewältigungslehrmeister gerne "Trauerarbeit" nennen. Weil der Schmerz das letzte Band der Verbindung zu Tonio ist, das zu lösen einem "Verrat der Lebenden" an ihm gleichkäme, dem Auspusten der "ewigen Flamme auf Tonios Grab". Jede kleinste Erinnerung an sein Leben - seine Geburt, die Urlaube, Tischgespräche, Gesten und Marotten, Pläne und Sorgen - versucht van der Heijden wachzuhalten und stellt sie in einer kaum entwirrbaren Abfolge neben die quälenden Schilderungen all der traumatischen Tage seit jenem "Schwarzen Pfingstsonntag". Beständig gepaart mit Selbstvorwürfen und Empfindungen "der totalen Niederlage", Reflexionen über den "organischen Verschleissprozess der Trauer". Verschränkt mit Rückblenden auf die letzten Stunden im Hospital, die in ihrer radikalen Unmittelbarkeit nichts auslassen: "Mir wurde der baldige Tod meines Sohnes verkündet, man würde ihm gleich den Atem abschneiden, und meine Gedanken verweilten bei meinem eigenen, verunreinigten Atem. Aglio olio."

Zu seinem 18. Geburtstag hatte van der Heijden seinem Sohn eigentlich eine Mappe mit Aufzeichnungen über sein Leben versprochen. Was er damals dann unterließ - "sein Leben brauchte nicht festgehalten werden, es musste gelebt werden", so schien es ihm, als es soweit war - , will er nun nachreichen, um dies alte Versprechen Tonio gegenüber einzulösen. "Auch als Toten habe ich ihn voll und ganz zu akzeptieren - und für ihn zu sorgen."

Nach und nach nehmen Andri und Mirjam, die sich jeden Abend mit Wodka betäuben müssen, Kontakt auf mit allen, denen ihr Sohn am Ende seines Lebens nah stand. Rekonstruieren seine letzten Stunden, seine Heimfahrt auf dem Rad. Versuchen die Zeit dieser Todesfahrt um diese paar Sekunden zu dehnen, die sein Leben hätten retten können. Während seine Frau sich durch die Tage heult, leidet Andri van der Heijden, der sich als Vater nachträglich sterilisiert fühlt und sich als Schriftsteller mit Tonios Tod der Muse seines Schreibens beraubt, "an einer Art inwendigen Weinens". Er will dieses "weinende Etwas nicht trösten oder beruhigen. Eher möchte ich es ermuntern: Ja, heul nur alles raus, es ist nie genug." Als habe er das Recht verwirkt, ein normal funktionierendes Dasein zu führen. Als ließe sich ohne die Beantwortung der Schuldfrage nicht weiterleben. Am Ende dieses dem Tod abgerungenen Trauerprotokolls, dem vorzuwerfen, das eigene Schicksal am Ende literarisch zu instrumentalisieren, absurd wäre, bleibt das sichere Gefühl, "dass die Toten eine bestimmte Energie für uns zurücklassen."

A. F.Th. van der Heijden: Tonio. Ein Requiemroman. Aus dem Niederl. von Helga van Beuningen, Suhrkamp, 671 S., 26,90 €

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