Auf der Suche nach dem „Wir“

Saarbrücken · Drei Stücke standen am Wochenende auf dem Programm des Perspectives Festival. Großen Eindruck hinterließ die Dokumentartheater-Truppe Rimini Protokoll. Die Protagonistin ihres Stücks sitzt im Rollstuhl.

 Die drei Kanadier der Gruppe Kindskopf in ihrem Stück „My, myself and us“. Foto: Frédéric Veilleux

Die drei Kanadier der Gruppe Kindskopf in ihrem Stück „My, myself and us“. Foto: Frédéric Veilleux

Foto: Frédéric Veilleux

Französische Zirkusse, diese Publikumslieblinge, sind für die Perspectives gleichsam ein Muss. Weil sie mit ihrer vom Traditionellen abweichenden Ästhetik sowohl das nach neuen Stilen und Formen suchende Theaterpublikum als auch Familien beglücken können. Mit der Compagnie Tête d'Enfant (Kindskopf) und dem Collectiv AOC waren am Freitag und Samstag gleich zwei im Programm.

Drei blutjunge Montrealer Artisten verbergen sich hinter Kindskopf. Und sie machten sich in der Altenkesseler Waldorfschule auf die Suche nach "My, myself and us", also dem Selbst und dem Wir. Nicht umsonst klatschen die großen und sehr vielen kleinen Zuschauer immer dann, wenn das Trio Virtuosität zeigte: Wenn der euphorische Wuschelkopf beim Jonglieren Spazierstöcke kunstvoll mit Keulen verhakte, der zweite sich im einhändigen Handstand in alle Richtungen verbog oder der schwermütige Mützen-Pierrot, den sie aufmuntern wollten, sich am Trapez austobte. Die Wir-Findungs-Geschichte der drei schleppte sich mit allerlei Anekdotischem und Bedeutsamem, aber insgesamt doch sehr zäh und unausgegoren dahin.

Auch bei den Altmeistern vom Collectif AOC, die bei Perspectives schon mehrfach begeisterten, fragte man sich diesmal oft: Was wollen sie uns denn nun erzählen? Etwas von der sprengenden Kraft der Liebe? Die störrische Greisin, die als vermeintliche Zuschauerin ins Zelt auf dem Tbilisser Platz schlurfte und sich mit einem jungen Mann pötzlich innig küsste, war eine verblüffende Pointe zum Auftakt, die als Idee leider nicht weitergeführt wurde. An Tanztheater à la Pina Bausch ließen die zehn Männer und Frauen sogar bisweilen denken, wenn sie sich in Alltagskleidung, dramatisch aufgeladen durch die Farben rot und schwarz, anzogen und abstießen. Wütend raste man hoch an Vertikalstangen, umschmiegte sich an fliegenden Trapezstangen und ging trampolingestützt die Wand hoch. Auch hier: artistisch sehr eigen, ein voller Genuss. Doch blieb von "Un pour la route", sinngemäß "noch Glas für den Weg" ein etwas unausgegorener Geschmack zurück.

"Qualitätskontrolle" - mit Bravour bestanden, lässt sich dagegen vom gleichnamigen Stück der Dokumentartheater-Truppe Rimini Protokoll in der Osthalle sagen. Eine 39-jährige Frau im Rollstuhl ist die zentrale Protagonistin auf der Bühne. Vom Heute her schilderte sie ihr Leben, dass sie nach dem Abi durch einen Schwimmbad-Unfall mit Genickbruch zum "Kopfmenschen" machte, der "wie eine Pflanze" auf dem Fensterbrett ständig von Pflegern umsorgt werden muss. Völlig unsentimental erzählt sie das alles, ernst humorvoll, selbstbewusst. Ihr "Hier-bin-ich" nimmt jede Befangenheit.

Von wegen abhängig von Pflegern: "Ich leite sie an." Gekonnt schnurrt sie mit ihrem Rollstuhl im leeren Schwimmbadbecken herum, um mit dem Pfleger inklusiven Fußball oder Schiffeversenken zu spielen oder am Computer Gedichte zu tippen und beweist mit allen Fasern: Sie lebt und das verdammt gern. Sagt etwa: "Ich habe die Ethikkommission überlebt." Die stritt nach dem Unfall, ob man nicht besser die Maschinen abstellen soll. Sie oder ihre geistig behinderte Schwester, die vor Glück immer jauchzt - hätten sie in der Nazizeit überlebt? Auch davon erzählt sie, schlägt den Bogen zur Prägnataldiagnostik heute, die Schwangere bei "Defekten" meist zum Abbruch bewegt. Damit will Rimini Protokoll offensichtlich dem Einzelfall eine größere Dimension geben. Wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, denn Marie-Christine Hallwachs berührt und erhellt uns allein durch sich selbst.

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